Literaturräume, Schulbuch
Kafka und sein Vater In der Nacht vom 22. zum 23. September 1912 schreibt Kafka die Erzählung „Das Urteil“. Die zwei agierenden Personen sind Vater und Sohn. Am Ende eines langen Gesprächs sagt der Vater zum Sohn: „Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!“ Widerstandslos nimmt der Sohn das Urteil an und lässt sich von der Brücke in den Fluss fallen. Als 36Jähriger schreibt Kafka 1919 den „Brief an den Vater“. Er umfasst mehr als 100 Seiten und war tatsächlich dazu bestimmt, dem Vater übergeben zu werden. Kafka bat vermutlich seine Mutter um die Überga be, diese fand jedoch nie statt. Lesen Sie einen Ausschnitt: 283 Der leseraum Deine äußerst wirkungsvollen, wenigstens mir gegenüber niemals versagenden rednerischen Mittel bei der Erziehung waren: Schimpfen, Drohen, Ironie, böses Lachen und merkwürdigerweise – Selbstbeklagung. Das Schimpfen verstärktest Du mit Drohen […]. Schrecklich war mir zum Beispiel dieses: ich zerreiße Dich wie einen Fisch, trotzdem ich ja wusste, dass dem nichts Schlimmeres nach- folgte (als kleines Kind wusste ich das allerdings nicht), aber es entsprach fast meinen Vorstellungen von Deiner Macht, dass Du auch das imstande gewesen wärest. Schrecklich war es auch, wenn Du schreiend um den Tisch herumliefst, um einen zu fassen, offenbar gar nicht fassen wolltest, aber doch so tatest und die Mutter einen schließlich scheinbar rettete. Wieder hatte man einmal, so schien es dem Kind, das Leben durch Deine Gnade behalten und trug es als Dein unverdientes Geschenk weiter. […] Deine Erziehungsmittel in den allerersten Jahren kann ich heute natürlich nicht unmittelbar beschrei- ben, aber ich kann sie mir etwa vorstellen durch Rückschluss aus den später erfahrenen […]. Direkt erinnere ich mich nur an einen Vorfall aus den ersten Jahren. Du erinnerst Dich vielleicht auch daran. Ich winselte einmal in der Nacht immerfort um Wasser, gewiss nicht aus Durst, sondern wahr- scheinlich teils um zu ärgern, teils um mich zu unterhalten. Nachdem einige starke Drohungen nicht geholfen hatten, nahmst Du mich aus dem Bett, trugst mich auf die Pawlatsche 1 und ließest mich dort allein vor der geschlossenen Tür ein Weilchen im Hemd stehn. Ich will nicht sagen, dass das unrichtig war, vielleicht war damals die Nachtru- he auf andere Weise wirklich nicht zu verschaffen, ich will aber damit Deine Erziehungsmittel und ihre Wirkung auf mich charakterisieren. Ich war damals nachher wohl schon folgsam, aber ich hatte einen inneren Schaden davon. […] Noch nach Jahren litt ich unter der quälenden Vorstellung, dass der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz, fast ohne Grund kommen und mich in der Nacht aus dem Bett auf die Pawlatsche tragen konnte und dass ich also ein solches Nichts für ihn war. Kafkas Ansicht über die Literatur und das Lesen von Büchern Rätselhaftes darzustellen, zu schockieren, die Leser/Leserinnen den Vieldeutigkeiten eines Textes auszusetzen und ihnen die Arbeit der Interpretation selbst zu überlassen, ist Kafkas ausdrückliche Intention und macht für ihn den Wert von Literatur aus. So schreibt der Autor in einem Brief, man sollte „überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? […] Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ 1 überdachter Holzbalkon 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 AUFGABEN > Charakterisieren Sie das Verhältnis Sohn – Vater, die Erziehungsmethoden des Vaters und dessen körperliche Erscheinung! > Schauen Sie sich auf DVD/Video eine KafkaVerfilmung an, wie zum Beispiel „Das Schloss“, verfilmt 1997 (Regie: Michael Haneke) und 1968 (Regie: Rudolf Noelte; mit Maximilian Schell)! Auch der „Prozess“ und die „Verwandlung“ sind (mehrmals) verfilmt worden. AUFGABE > Sprechen Sie in der Gruppe oder in der Klasse über ein Buch/über Bücher, die Sie „gebissen“ und „gestochen“ haben und die für Sie als „Axt“ oder „Faustschlag“ gewirkt haben. Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv
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