Literaturräume, Schulbuch

342 die literatur zwischen 1945 und 1968 Ein neuer Anfang? Beim Begräbnis seines Vaters beschließt Oskar, wieder zu wachsen und wirft die Trommel ins offene Grab. Mit dem Ende des Krieges und des NS-Regimes hofft er, dass eine neue Zeit anbricht. Er möchte mitmachen, sich integrieren. Doch die Desillusionierung folgt bald, weder er selbst noch die anderen ändern sich zum Guten. Wie die Schelme der Barockliteratur zieht Oskar sich endgültig vor der Welt zurück. Er gesteht einen Mord, den er nicht begangen hat, um als unzurechnungsfähig in die Heilanstalt zu kommen, aus der er sein Leben beschreibt. Was früher das Kriechen Oskars unter die Röcke der Großmutter war, ist ihm jetzt das Gitterbett: Zuflucht vor der Welt. 8 „Was machte diesen liebenswürdigen Mann, meinen Vater, so hart?“ Heinrich Böll: „Ansichten eines Clowns“ (1963) Der Vater ein Wirtschaftskapitän, der Sohn ein Clown Hans Schnier ist ein Sohn aus reichem Haus. Er ist Clown, Berufsbezeichnung „Komiker, keiner Kirche steuerpflich- tig, siebenundzwanzig Jahre alt“ , und hat auf alle gesellschaftlichen Möglichkeiten verzichtet, die ihm sein Eltern­ haus geboten hätte. Als „Narr“ möchte er den Menschen die Wahrheit sagen. Auch er selbst möchte die Wahr­ heit leben. Dieser Versuch hat für ihn eine Reihe negativer Folgen. So hat ihn seine Freundin Marie verlassen. Sie hatte auf eine kirchliche Heirat gedrängt, Schnier hatte das aber als verlogen abgelehnt. Den Kontakt mit den Eltern hat er beendet. Insbesondere mit seiner Mutter hat er gebrochen. Sie hatte noch kurz vor dem aussichts­ losen Kriegsende ihre Tochter Henriette als „Freiwillige“ zur Fliegerabwehr geschickt. Von dort kam Henriette nicht mehr zurück. Angewidert von der deutschen Nachkriegsgesellschaft, in der alte Nazitäter anstandslos in neue/alte Rollen schlüpfen können, hat sich Schnier in ein Zimmer in Bonn zurückgezogen. Jeden Tag muss er um das finanzielle Überleben kämpfen. Eines Tages taucht überraschend sein Vater, erfolgreicher 70-jähriger Millionär und Wirtschaftskapitän, in Schniers Zimmer auf. Vier Stunden dauert die Aussprache zwischen beiden. Thema ist die Erziehung, die Schnier als Kind erlitt. Sie war nichts als eine „tödliche Ver­ drossenheit“ . Der Vater leidet unter den Vorwürfen. Schnier hat Mitleid mit ihm, denn es „muss schlimm für einen Vater sein, sich mit seinem Sohn, wenn er schon fast achtundzwanzig ist, zum erstenmal richtig zu unterhalten“ . Das Gespräch geht zu Ende. Mein Vater stand wieder mit dem Gesicht zum Tisch und weinte nicht mehr. Mit seiner roten Nase, den feuchten, faltigen Wangen sah er wie irgendein alter Mann aus, fröstelnd, auf eine überraschende Weise leer und fast dumm. Ich goss ihm ein bisschen Kognak ein, brachte ihm das Glas. Er nahm es und trank. Der überraschend dumme Ausdruck auf seinem Gesicht blieb, die Art, wie er sein Glas leerte, es mir stumm, mit einem hilflosen Flehen in den Augen hinhielt, hatte fast etwas Trotteliges, das ich noch nie an ihm gesehen hatte. Er sah aus wie jemand, der sich für nichts, nichts mehr wirklich interessiert, nur noch für Kriminalromane, eine bestimmte Weinmarke und dumme Witze. Das zerknautschte und feuchte Taschentuch hatte er einfach auf den Tisch gelegt, und ich empfand diesen für ihn enormen Stilfehler als einen Ausdruck von Bockigkeit – wie bei einem unartigen Kind, dem schon tausendmal gesagt worden ist, dass man Taschentücher nicht auf den Tisch legt. Ich goss ihm noch etwas ein, er trank und machte eine Bewegung, die ich nur deuten konnte als „Bitte, hol mir meinen Mantel“. Ich reagierte nicht darauf. Ich musste ihn irgendwie wieder auf Geld bringen. Es fiel mir nichts Besseres ein als meine Mark aus der Tasche zu nehmen und mit der Münze ein bisschen zu jonglieren: ich ließ sie an meinem nach oben ausgestreckten rechten Arm herunterrollen – dann denselben Weg zurück. Seine Amüsiertheit über diesen Trick wirkte ziemlich gequält. Ich warf die Mark hoch, fast bis an die Decke, fing sie wieder auf – aber er wiederholte nur seine Geste – „Bitte, meinen Mantel.“ Ich warf die Mark noch einmal hoch, fing sie mit dem dicken Zeh meines rechten Fußes auf und hielt sie hoch, ihm fast unter die Nase, aber er machte nur eine ärgerliche Bewegung und brachte ein knurriges „Lass das“ zustande. Ich ging achselzuckend in die Diele, nahm seinen Mantel, seinen Hut von der Garderobe. Er stand schon neben mir, ich half ihm, hob die Handschuhe auf, die aus seinem Hut gefallen waren, und gab sie ihm. Er war wieder nahe am Weinen. […] 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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