Literaturräume, Schulbuch
Er sah mich an und flehte stumm, nicht Henriettes Namen zu nennen, und ich nannte Henriettes Namen nicht, obwohl ich vorgehabt hatte, ihn zu fragen, warum er nicht so nett gewesen war, ihr den Schulausflug zur Flak zu verbieten. Ich nickte, und er verstand: Ich würde nicht von Henriette sprechen. Sicher saß er während der Aufsichtsratssitzungen da, kritzelte Männchen aufs Papier und manchmal ein H, manchmal vielleicht sogar ihren vollen Namen: Henriette. Er war nicht schuldig, nur auf eine Weise dumm, die Tragik ausschloss oder vielleicht die Voraussetzung dafür war. Ich wusste es nicht. Er war so fein und zart und silberhaarig, sah so gütig aus und hatte mir nicht einmal ein Almosen geschickt, als ich mit Marie in Köln war. Was machte diesen liebenswürdigen Mann, meinen Vater, so hart und so stark, warum redete er da am Fernsehschirm von gesellschaftlichen Verpflichtungen, von Staatsbe- wusstsein, von Deutschland, sogar von Christentum, an das er doch nach eigenem Geständnis gar nicht glaubte, und zwar so, dass man gezwungen war, ihm zu glauben? Es konnte doch nur das Geld sein, nicht das konkrete, mit dem man Milch kauft und Taxi fährt, sich eine Geliebte hält und ins Kino geht – nur das abstrakte. […] In seinen Augen las ich es – er konnte sein Geld nicht einem Clown geben, der mit Geld nur eins tun würde: es ausgeben, genau das Gegenteil von dem, was man mit Geld tun musste. Und ich wusste, selbst wenn er mir eine Million gegeben hätte, ich hätte sie ausgegeben, und Geldausgeben war für ihn gleichbedeutend mit Verschwenden. […] Ich gab meinem Vater den Weg frei. Er fing wieder an zu schwitzen und tat mir leid. Ich lief schnell ins Wohnzimmer zurück und holte das schmutzige Taschentuch vom Tisch und steckte es ihm in die Manteltasche. […] „Soll ich dir ein Taxi bestellen?“, fragte ich. „Nein“, sagte er, „ich gehe noch ein bisschen zu Fuß.“ […] Er ging an mir vorbei, ich öffnete die Tür, begleitete ihn bis zum Aufzug und drückte auf den Knopf. 343 Der leseraum 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 Hans Schnier – eine typische Böll-Figur Hans Schnier bricht zur letzten Station seines Abstiegs auf, dem Bahnhof von Bonn. Dort spielt er, zum Bettler geworden, für die Passanten Gitarre. Die unschuldigen, naiven, von Böll in seinem Roman „Billard um halb zehn“ als „Lämmer“ bezeichneten Figuren sind charakteristisch für viele Romane und Erzählungen des Autors. Sie müs sen sich meist gegenüber den „Büffeln“ zur Wehr setzen, den Vertretern von Politik, Wirtschaft und Eigeninteresse. Eine jener Personen ist Leni Pfeiffer aus dem Roman „Gruppenbild mit Dame“ (1971), die listig mit anderen Un termietern um ihre Altbauwohnung kämpft, die von ihren Verwandten zum Spekulationsobjekt gemacht wird. Zu diesen „Lämmern“ gehört auch Katharina Blum aus „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1974), die einen Verbrecher liebt und deshalb von einem der deutschen BILDZeitung nachgestalteten Massenblatt selbst zur Ver brecherin gestempelt und zerstört wird, bis sie sich in einem aussichtslosen Gewaltakt dagegen zur Wehr setzt. 9 Zwei große Romane ohne Publikum Gert Ledig: „Vergeltung“ (1956) Hans Lebert: „Die Wolfshaut“ (1960) Gert Ledig: der grauenvolle Luftkrieg Ledigs Roman „Vergeltung“ erregte nur kurz nach Erscheinen Aufmerksamkeit. Er schildert eine einzige Stunde eines Bombenangriffs auf eine deutsche Stadt im Juli 1944. In der breiten Öffentlichkeit stieß Ledigs krasse Dar stellung von Kriegsereignissen auf Ablehnung. Gesellschaft und Politik wollten Positives, Harmonie, Zukunfts perspektiven und keinen Roman, der das Grauen noch einmal thematisiert. Auch das Thema war manchen zu heikel und politisch nicht unbedingt erwünscht. Zu sehr befürchtete man – und wohl auch mit einer gewissen AUFGABEN > Arbeiten Sie das Vokabular heraus, mit dem Hans Schnier seinen Vater beschreibt! > Welche Gegensätze beherrschen Schniers Vater, welche Ängste und unbewältigten Erlebnisse der Vergangenheit prägen ihn? In welchen unbewussten Handlungen zeigt sich diese Vergangenheit? Was ist für Sie „konkretes“ und „abstraktes“ Geld? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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