Literaturräume, Schulbuch
344 DIe lIteratur zWIschen 1945 unD 1968 Berechtigung –, dass die Schilderung des Bombenkrieges gegen deutsche Städte manche Leser dazu verführen könnte, die Bombardements gegen die NSGräuel aufzurechnen, diese zu relativieren und die Frage nach der Ursache der Bombardements und des Krieges zu verdrängen. Als die Missachtung des Romans bei der damaligen Kritik und Leserschaft deutlich geworden war, zog sich Ledig ganz aus der Literatur zurück. 1999 wurde „Vergel tung“ neu aufgelegt und von der Literaturkritik als „vermutlich einer der besten Romane über den Zweiten Welt- krieg und den Irrsinn des Krieges überhaupt“ gelobt. Hier der Beginn des Romans: Mitteleuropäische Zeit 1301 Lasset die Kindlein zu mir kommen. – Als die erste Bombe fiel, schleuderte der Luftdruck die toten Kinder gegen die Mauer. Sie waren vorgestern in einem Keller erstickt. Man hatte sie auf den Friedhof gelegt, weil ihre Väter an der Front kämpften und man ihre Mütter erst suchen musste. Man fand nur noch eine. Aber die war unter den Trümmern zerquetscht. So sah die Vergeltung aus. Ein kleiner Schuh flog mit der Bombenfontäne in die Luft. Das machte nichts. Er war schon zerrissen. Als die emporgeschleuderte Erde wieder herunter- prasselte, begann das Geheul der Sirenen. Es klang, als beginne ein Orkan. Hunderttausend Menschen spürten ihr Herz. Die Stadt brannte seit drei Tagen, und seitdem heulten die Sirenen regelmäßig zu spät. Es war, als würden sie absichtlich so in Betrieb gesetzt, denn zwischen dem Zerbomben brauchte man Zeit zum Leben. Das war der Beginn. Zwei Frauen auf der anderen Seite der Friedhofs- mauer ließen den Handwagen los und rannten über die Straße. Sie dachten, die Friedhofsmauer sei sicher. Darin hatten sie sich geirrt. In der Luft dröhnten plötzlich Motoren. Ein Pfeilregen von Magnesiumstäben bohrte sich zischend in den Asphalt. In der nächsten Sekunde platzten sie auseinander. Wo eben noch Asphalt war, prasselten Flammen. Der Handwagen wurde von der Luftwelle umgeworfen. Die Deichsel flog in den Himmel, aus einer Decke entrollte sich ein Kind. Die Mutter an der Mauer schrie nicht. Sie hatte keine Zeit dazu. Hier war kein Spielplatz für Kinder. Neben der Mutter stand eine Frau und brannte wie eine Fackel. Sie schrie. Die Mutter blickte sie hilflos an, dann brannte sie selbst. Von den Beinen herauf über die Unterschenkel bis zum Leib. Das spürte sie noch, dann schrumpfte sie zusammen. Eine Explosions- welle barst an der Friedhofsmauer entlang, und in diesem Augenblick brannte auch die Straße. Der Asphalt, die Steine, die Luft. Das geschah beim Friedhof. […] In dieser Stunde oder nach dieser Stunde wurden noch mehr erschlagen. Ein ungebo- renes Kind im Mutterleib von einer Hausmauer. Der französische Kriegsgefangene Jean Pierre von einem Gewehrkolben. Sechs Schüler des Humanistischen Gymnasiums am Flakgeschütz von einem Rohrkre- pierer. Ein paar hundert Namenlose auch. Nennens- wert war das nicht. In diesen sechzig Minuten wurde zerrissen, zerquetscht, erstickt. Was dann noch übrig blieb, wartete auf morgen. Später behauptete jemand: So schlimm wäre das nicht gewesen. Es blieben immer welche übrig. Hans Lebert: Absage an Heimat- und „Sissi“-Romantik Die 50erJahre sind die große Zeit des österreichischen Heimatfilms. Streifen wie „Der Förster vom Silberwald“ oder „Grün ist die Heide“ präsentieren idyllische Natur und harmonisch mit ihr lebende Menschen. Blickt der Film in die Vergangenheit zurück, dann freilich in keine nahe, sondern in eine, die sich mit dem Abstand von Eine Leerstelle der Literatur? INFO Der Schriftsteller und Literaturwissenschafter W. G. Sebald vertritt in seinem Buch „Luftkrieg und Literatur“ die These, die deutsche Literatur zeige eine entscheidende „Leerstelle“ . Nichts gäbe es zu einer der traumatischsten Erfahrungen, den verheerenden Luftangriffen auf deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg. Ein Grund hierfür, auf den Sebald verweist, liegt nahe: Von den Leiden der eigenen Leute sei schwer zu sprechen angesichts der Leiden, die Deutsche anderen zugefügt haben. Aus demselben Grund sind auch Flucht und Vertreibung Deutscher aus dem Osten kaum Gegenstand der Literatur geworden. Neben Ledigs Roman „Vergeltung“ nimmt Günter Grass in seiner Novelle „Im Krebsgang“ (2002) eines dieser lange gemiedenen Themen auf. Grass schildert den durch russische Torpedos verursachten Untergang des Flüchtlingsschiffes „Wilhelm Gustloff“, mit vermutlich mehr als 10.000 Toten, darunter allein 4000 Säuglinge und Kleinkinder. Grass wollte das Thema Flucht und Vertreibung, wie er schreibt, nicht nur den „Rechtsgestrickten […] überlassen“ . Die Literaturkritik reagierte sehr positiv auf das Werk: „Über Vertreibung zu sprechen wird von nun an – dank Grass’ Krebsgang – für niemanden mehr […] ein Tabubruch sein.“ 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 Nur zu Prüfzw cken – Eigentum des Verlags öbv
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