Literaturräume, Schulbuch

346 DIe lIteratur zWIschen 1945 unD 1968 28 30 32 34 36 38 40 42 Und in der Tat! Die beiden setzten sich hin! Der Viehtreiber auf den Stubben, und das Wirtsmensch, nach züchtigem Handgemenge der männlichen Brutalität erliegend, dem Viehtreiber quer auf den Schoß. Dann wuchsen sie zusammen, verschmolzen in der Dämmerung, wurden zu einem phanta- stischen Klumpen, einem einzigen ungestalten Leib mit vier Armen und vier Beinen, die ineinander verschlungen waren wie unten im Erdreich die Wurzeln der mächtigen Bäume. Habergeier ließ seinen Feldstecher sinken. Er wusste, der Klumpen da würde ihm alles verderben. Die feuchte, reglos lastende Luft dieses Abends saugte die Gerüche wie einen Schwamm und hielt sie für die Witterung des Wildes noch lange Zeit in Bodennähe fest. Er überlegte, was zu tun sei. Ohne Verdruss die beiden entfernen, das ging nicht. Ihnen die Poren zuhalten konnte man auch nicht. Ja, eigentlich konnte man gar nichts anderes machen, als warten, bis sie sich hinreichend abgeschmiert hatten. „Stinkt euch nur aus, ihr Luder!“, knurrte er drohend. Er nahm seinen Stutzen, legte an, zielte – jeglicher Sitte zum Trotz – spielend auf das Liebes- paar, dessen Brunftgeruch die Tiere hinwegstänkern würde. Hinter Kimme und Korn erschienen die Köpfe der beiden, dieser edelste Teil einer nunmehr verbotenen Beute, und in Habergeier (er sah wie der liebe Gott aus!) wurden auf einmal Erinnerungen lebendig; sein dürrer Finger krallte sich jäh um den Abzug wie die Kralle eines großen Vogels. Da senkte er eiligst den Lauf. Die Menschen hatten jetzt Schonzeit. Habergeier bleibt als einziger der Mörder ungeschoren. Er kann sich, da er gerade in den Landtag gewählt wurde, dank seiner Immunität der Strafe für seine Verbrechen entziehen. Seiner weiteren politischen Karriere steht nichts im Weg. Auch dieser Hinweis Leberts auf die Leichtigkeit, mit der manche NSVerbrecher wieder in den politischen Alltag zurückkehren durften, erregte wenig Freude. Erst auf Empfehlung von Elfriede Jelinek wurde Lebert in den 90erJahren wiederentdeckt. 44 46 48 50 52 54 56 58 10 „Die Erde will keinen Rauchpilz tragen.“ Ingeborg Bachman: „Freies Geleit“ (1956) Hans Magnus Enzensberger: „middle class blues“ und „das ende der eulen“ (1960) Erich Fried: „Anpassung“ (1966) Ingeborg Bachmanns „schöne Gedichte“ werden missverstanden 1953 und 1956 erscheinen Ingeborg Bachmanns Lyrikbände „Die gestun­ dete Zeit“ und „Anrufung des großen Bären“. Die Kritik rühmt ihre sprachliche Schönheit, betont die Unterschiede zur kargen Lyrik der „Trümmerliteratur“, rückt die Autorin in die Nähe der antiken Sängerin Sappho, vergleicht sie mit Rilke. Dass die Gedichte scharfe Kritik aus­ drücken, wurde oft übersehen. Deshalb ironisierte Bachmann in der an der Universität Frankfurt gehaltenen Vorlesungsreihe „Probleme zeit­ genössischer Dichtung“ Leser, die ihre Gedichte verharmlosen und nur die formale Harmonie genießen möchten: „Hauptsache, dass die schönen Worte da sind, das Poetische, das ist gut, das gefällt uns.“ Sie attackierte diese Art von kulinarischem Lesen als „Vorbeugungsmittel gegen die Kunst, um sie unschädlich zu machen“ . In radikaler Konsequenz auf das Miss­ verstehen ihrer Gedichte veröffentlichte die Autorin nach 1956 keinen weiteren Lyrikband. Ingeborg Bachmann AUFGABEN > Beschreiben Sie die Parallelen zwischen Wetter, Landschaft und Habergeiers Charakter. > An welcher Stelle baut Lebert besondere Spannung auf, wo löst sich die Spannung? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=