Literaturräume, Schulbuch
365 die literaturübersicht der Werbung, der Medien und der Politik sind Instrumente der Manipulation, vor allem weil diese Phrasen gar nicht mehr auffallen und die alltägliche Sprache prägen. Die österreichische Literatur der Gegenwart setzt die Tradition der Sprachkritik, die mit Karl Kraus – siehe S. 259 ff. – einen ersten Höhepunkt erreicht hatte, intensiv fort. Peter Handkes Stücke „Publikumsbeschimpfung“ und „Kaspar“ und sein Roman „Wunschloses Unglück“ (1) zeigen, wie mit der Sprache Herrschaft über den Einzelnen ausgeübt werden kann. Zu den beharrlichsten Kriti kerinnen manipulativer Sprache gehört Ingeborg Bachmann . „Ein Schriftsteller hat Phrasen zu vernichten“ , so lautet ihre Forderung. Literatur müsse „ein tausendfacher Verstoß gegen die schlechte Sprache“ sein. Ihr Gedicht „Reklame“ gilt als klassisches Beispiel für ihre Sprachkritik. Der Text „Ikea“ von Franzobel (*1967) führt Bach manns Anliegen in die Gegenwart (2) . Der Einfluss von Ludwig Wittgensteins „Tractatus“ Autorinnen und Autoren wie Bachmann und Handke, die in der Sprachkritik eine wichtige Aufgabe der Literatur sehen, haben sich intensiv mit der Sprachphilosophie des „Wiener Kreises“ und Ludwig Wittgensteins befasst. Für diese Philosophen sind Denken und Sprache untrennbar miteinander verbunden. In seinem „Tractatus logico-philosophicus“ (1921) bemüht sich Wittgenstein, Kriterien für „wahre“ und „falsche“ Sätze aufzustellen. Grundkriterium ist, dass Sätze überprüft werden können. „Wahr“ sind demnach Sätze, die einen Sachverhalt präsentieren, der nicht nur in der Wortanordnung, sondern auch in Wirklichkeit besteht. „Falsch“ sind Sätze, die zwar grammatisch richtig sind, deren Sachverhalt aber nicht in der Wirklichkeit besteht. Skeptisch sind die Philosophen vor allem gegenüber Sätzen metaphysischer und religiöser Art und gegenüber Leerformeln, in de nen die einzelnen Vokabel in unterschiedlichster Weise aufgefasst werden können und deshalb beliebig sind. Dies widerspricht nämlich dem Ziel, dass Begriffe und Wörter überprüfbar sein sollen. Religiös-Mystisches mag es geben, doch ist es unaussprechlich. „Die einzige Methode […] wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt […], und dann immer wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, dass er gewissen Zeichen [= Wörtern] in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. […] Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Mit diesen berühmten Ratschlägen zu vorsichtigem, überprüfbarem Sprachge brauch endet der „Tractatus“. Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“ In den „Philosophischen Untersuchungen“ (veröffentlicht 1953) unterstreicht Wittgenstein, wie verführbar das Denken durch die Sprache ist. Vor allem aufgrund von Ähnlichkeiten kann man irreführende und/oder inhalts lose Sätze konstruieren. Zum Beispiel kann die grammatische Ähnlichkeit zwischen Sätzen wie „Ich habe ein Auto“ und „Ich habe eine Idee von Gott“ zur falschen Auffassung verleiten, dass man Eindrücke, Empfindungen oder Ideen in gleicher Weise „hat“ wie einen Gegenstand. Dadurch bekommen Sätze wie „Ich habe eine Idee von Gott“ einen hohen Grad an Überzeugung. Wittgenstein weist auch darauf hin, dass die Verwendung einer be stimmten Sprachform Ausdruck einer bestimmten Lebensform und Absicht ist. Niemand spricht, ohne mit der Sprache irgendeine Absicht zu verfolgen. Das neue Theater Die Freude an der Provokation In den späten 60er-Jahren erscheint eine Reihe von Theaterstücken auf der Bühne, die auf die Schockierung des Publikums setzen. Schon Handkes Dramen „Publikumsbeschimpfung“ und „Kaspar“, die keine Handlung boten, sondern das Sezieren der alltäglichen Sprache zum Gegenstand hatten, wirkten für den „durchschnittlichen“ Theatergeher als Herausforderung. Zu wahren Skandalen führten aber Stücke wie „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von Rainer Werner Fassbinder (1945–82), „Der Stallerhof“, „Bauern sterben“ und „Oberösterreich“ von Franz Xaver Kroetz (*1946), „Kein Platz für Idioten“, „Sibirien“, „Besuchszeit“ von Felix Mitterer (*1948). Sie brach ten in realistischer Darstellung moralische und sexuelle Tabus auf die Bühne: Abschiebung von Behinderten und Alten, Wegsperrung von Außenseitern, Vertreibung der Bauern von ihren Höfen, Erniedrigung der Frauen oder die tödliche Langweile in den angesehenen Kreisen der Bürger und Intellektuellen. Besonders befremdend wirkte, dass diese Dramen vielfach in Mundart oder Dialekt verfasst und von den Autoren oft als „Volksstück“ Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv
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