Literaturräume, Schulbuch
372 DIe gegenWartslIteratur – mIt österreIchschWerpunkt Friedenstagen (23) . Erst 2010 wurde das Tagebuch von Bachmanns Geschwistern zum Druck freigegeben. Bach mann, gerade 19jährig, schildert darin die letzten Tage der NSUnterdrückung, die Freude über den Frieden und ihre Liebesbegegnung mit dem österreichischbritischen Soldaten Jack Hamesh, der 1939 als Jude vor den Natio nalsozialisten aus Wien nach England fliehen musste und nun als Besatzungssoldat zurückgekehrt ist. Kurz zuvor hatte bereits eine weitere Entdeckung höchste Aufmerksamkeit erhalten. Als „gewaltiges, ungeheuer- liches Buch“ , als „sensationelles“ und „einzigartiges Dokument“ , als „Monument deutscher [!] Kulturgeschichte“ , als Werk, das „alles bisher Bekannte überbietet“, als „Welthammer“ bezeichnete die Kritik den 2009, 20 Jahre nach Bernhards Tod, veröffentlichten Briefwechsel von Thomas Bernhard mit seinem Verleger Siegfried Unseld (24) . Thema sind geschäftliche Auseinandersetzungen zwischen Unseld, dem Leiter des SuhrkampVerlags, eines der wichtigsten Verlage für Gegenwartsliteratur, und Bernhard, der in seiner typischen „Übertreibungskunst“ agiert. Dieser Briefwechsel gibt nicht nur einen weiteren Einblick in Bernhards Schreiben, sondern informiert auch über die Beziehungen zwischen Autoren und Verlegern. Der leseraum 1 „In Sätzen steckt Obrigkeit.“ Peter Handke: „Wunschloses Unglück“ (1972) Handke, der Provokateur Wenige Schriftsteller erregen bis heute ähnliches Aufsehen wie Handke. Schon seine frühesten Texte, wie die Theaterstücke „Publikumsbe schimpfung“ (1966) oder „Kaspar“ (1968), provozierten. Scharf sind auch von Anfang an seine Attacken gegen die Medien, die seine Literatur oft pauschal als „narzisstisch versponnen“ kritisieren. Als politisch besonders provokanter Text wurde Handkes Reisebericht „Gerechtigkeit für Serbien – Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina“ aus dem Jahr 1996 aufgefasst. Handke stellte sich im Zuge der Kriege im zerfallenden Jugoslawien auf die Seite Serbiens, um ein Gegengewicht zu bilden gegen die seiner Ansicht nach pauschale Diffamierung des Landes. Einen heftigen Skandal gab es 2006 um die Verleihung des Heinrich HeinePreises der Stadt Düsseldorf an Handke. Politiker der Stadt wollten dem Autor den von der Jury zuerkannten Preis, einen der mit 50.000 Euro höchstdotierten Literaturpreise, nicht verleihen, da Handke mit sei ner Rede zum Begräbnis des serbischen Diktators Miloševič sich nicht von dessen Verbrechen distanziert habe. Handke verzichtete schließlich auf den Preis. Aus demselben Grund nahm die Comédie Française, die berühmteste französische Bühne, Handkes „Spiel vom Fragen“ aus dem Spiel plan 2007. Die alltägliche Manipulation durch die Sprache Handkes Erzählung „Wunschloses Unglück“ beginnt lapidar: „Unter der Rubrik VERMISCHTES stand in der Sonn- tagsausgabe der ,Kärntner Volkszeitung‘ Folgendes: ‚In der Nacht zum Samstag verübte eine 51-jährige Hausfrau aus A. (Gemeinde G.) Selbstmord durch Einnehmen einer Überdosis von Schlaftabletten.‘“ Diese Frau ist Handkes Mutter, eine Kärntner Slowenin. Der Autor nimmt sich vor, zu dieser unpersönlichen Zeitungsmeldung in einzel nen Beobachtungen die „einfache und klare“ Geschichte seiner Mutter zu schreiben. Aufgewachsen in bäuerlich katholischer Umgebung, erzogen zu Anspruchslosigkeit und Dienen, verheiratet mit einem Säufer, hatte sie nie die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen: „Das persönliche Schicksal, wenn es sich überhaupt jemals als etwas Eigenes entwickelt hatte, wurde entpersönlicht und ausgezehrt in den Riten der Religion, des Brauchtums und der guten Sitten, so dass von den Individuen kaum etwas Menschliches übrig blieb; ,Individuum‘ war auch nur bekannt als ein Schimpfwort.“ Peter Handke Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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