Literaturräume, Schulbuch

382 DIe gegenWartslIteratur – mIt österreIchschWerpunkt 7 „Wir steigern uns oft in eine Übertreibung hinein.“ Thomas Bernhard: „Auslöschung“ (1986) „Thomas Bernhard ist ohne Österreich nicht zu denken“ Mit diesem Satz beginnt die österreichische Literaturkritikerin Sigrid Löffler ihre Auseinandersetzung mit dem Werk Thomas Bernhards. Tat­ sächlich spielen alle seine mehr als zwanzig epischen Werke in Öster­ reich, angefangen mit Bernhards erstem Roman „Frost“ (1963) über die autobiographischen Kindheits und Jugenderinnerungen „Die Ursache“ (1975), „Der Keller“ (1976), „Der Atem“ (1978), „Die Kälte“ (1981), „Ein Kind“ (1982) über „Alte Meister“ (1985) bis zu „Auslöschung“ (1986). Die Schauplätze lassen sich zumeist leicht in jedem ÖsterreichAtlas auffin­ den: Salzburg, Wien, Orte in Oberösterreich. Das Gleiche gilt für nahezu alle seine Dramen. Hier in Österreich agieren seine „Helden“, ausgeliefert an ihre Umgebung. Diese schildert Bernhard als politisch verkommen, noch immer in die NSIdeologie verstrickt, von habsburgischen und ka­ tholischen Traditionen gefesselt. Die Landschaften sind für den Touris­ mus zerstört. Aus diesem Milieu, das durch Familie, Dorf, Stadt, die sozi­ ale Umgebung, Kulturschickeria und schließlich den Staat repräsentiert wird, versuchen Bernhards Helden auszubrechen. Doch sie sind keine strahlenden Helden. Ihr Außenseitertum hat sie zu maßlosen Exzentrikern gemacht, sie sind ungerecht und pauschal in ihren Angriffen und Urteilen, oft krank, geisteskrank, lungenkrank, oder manchmal auch kriminell. Die Helden der Theaterstücke sind oft geschei­ terte Künstler, Tyrannen, narzisstisch und unfreiwillig komische Schwätzer. Thomas Bernhard anders – „richtig“ – lesen! Es ist nicht verwunderlich, dass ein solches Werk schnell als gnadenlose Österreichbeschimpfung aufgenommen werden kann. Bei unvoreingenommener Lektüre Bernhards erweist sich eine solche Etikettierung jedoch als pauschal und falsch. Zunächst sind Bernhards Figuren, die Träger von Kritik und Beschimpfung, selbst keine un­ anzweifelbaren Charaktere und bieten sich nicht als Identifikationsfiguren an, deren Sätze unbedingten Wahr­ heitsanspruch anmelden können. Zweitens zerstören die Figuren ihre Aussagen immer wieder und stellen ihnen Sätze gegenüber, die das Gesagte aufheben und Gegenteiliges behaupten. So ist in „Auslöschung“ zum Thema Wenigstens die Nächte versuchten die Dienstboten an sich zu reißen. So pflanzte man sich von einer Finsternis in die andere fort. Die Priester gingen wie böse Stiere, die man mit verbundenen Augen in das Schlachthaus führt, durch die Tage. Von der Kanzel herunter verboten sie den vorehelichen Geschlechtsverkehr und schauten in die Dienstbotengesichter, denen außer Arbeiten alles verboten war. Heiraten, hieß es, kann nur, wer etwas hat. Aber die Dienstboten hatten nichts als ihre Not, sie waren arm wie die Urchristen, aber längst keine Christen mehr. Sie gingen ja nur in die Kirche, weil sie mussten, weil die Bauern sie sonst hätten verhungern lassen. Wer sich weigerte, am Sonntag in die Kirche zu gehen, wurde noch am selben Tag vom Hof gejagt. Das gleiche galt, wenn einer etwas auszusetzen hatte. Wenn jemand etwas zu bemängeln hatte, war das der Bauer. 34 36 38 40 42 44 46 48 50 Thomas Bernhard AUFGABEN > Mit welcher Metapher kennzeichnet Innerhofer – siehe Zeile 4 und 36 – das schwere Leben der Dienst­ boten? Welche konkreten Beispiele zeigen deren elende soziale Situation? > Worin sieht der Autor die Hauptursachen, dass die Dienstboten ihr Wissen um ihre Ausbeutung nicht in die Tat umsetzen und ihre Situation verändern können? > Welche Rolle spielt laut Innerhofer die Kirche? Nur zu Prüfzwecken – Eigentu des Verlags öbv

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