Literaturräume, Schulbuch
383 Der leseraum Erziehung auf dem Land die Rede von der sich „auf den heranwachsenden Menschen grausam und entsetzlich aus- wirkenden Machtmischmethode“ , von „katholisch-natio- nalsozialistischen Erziehungsmethoden“ . Es seien die „in Österreich normalen, die üblichen, die am weitesten ver- breiteten. […] Das ist die österreichische Wahrheit.“ Einige Seiten weiter heißt es hingegen, dass auf dem Land „alles auf die natürlichste Weise vor sich geht und tatsächlich menschlich“ . Drittens sind sich die Figuren ihrer Aussagen selbst oft nicht sicher, sie schränken diese oft ein durch Relativierungen wie „wie gesagt wird“ , „wie ich sagen muss“ , „so genannt“ , „habe ich mich gefragt“ , „habe ich ge- dacht“ . Schließlich setzt der Autor auf eine ganz be stimmte Art des Schreibens, wie folgende Passage aus „Auslöschung“ zeigt. Die Hauptperson, der aus der Enge seines österreichischen Familienschlosses Wolfsegg nach Rom geflohene Murau, spricht mit seinem Freund Gam betti über die Literatur: Bernhard als Patriot? Bernhards Literatur will irritieren, satirisch übertreiben, Widersprüche artikulieren und provozieren, Ungewiss heiten erzeugen, nicht lösen, und sie sieht sich selbst als Teil dieses Widersprüchlichen und Ungewissen. So kön nen bedeutende Denker wie der katholische Philosoph Friedrich Heer den Autor sogar als „österreichischen Patrioten“ bezeichnen, der mahnt, dass Österreich von seinen Traditionen her eine wichtigere geschichtliche und kulturelle Rolle in der Welt spielen könne, als es die Auseinandersetzungen der Tagespolitik zulassen. Noch im Österreich im Essay INFO In zahlreichen Essaybänden geben Autorinnen und Autoren immer wieder Stellungnahmen und „Erklärungen“ zur österreichischen „Seele“ und Analysen und Diagnosen zu aktuellen gesellschaftlichen Ereignissen ab; politisch kontrovers und von unterschiedlichem Niveau. Hier eine Auswahl als Leseund Diskussionsan regung: Karl-Markus Gauß: „Ins unentdeckte Österreich“, „Mit mir ohne mich“; Josef Haslinger: „Politik der Gefühle“, „Klasse Burschen“; Konrad Paul Liessmann: „Der gute Mensch von Österreich“; Robert Menasse: „Das war Österreich“, „Dumm heit ist machbar“; Doron Rabinovici : „Credo und Credit“; Gerhard Roth: „Das doppelköpfige Österreich“; Marlene Streeruwitz: „Tagebuch der Gegenwart“. Wir steigern uns oft in eine Übertreibung derartig hinein, habe ich zu Gambetti später gesagt, dass wir diese Übertreibung dann für die einzige folgerichtige Tatsache halten und die eigentliche Tatsache gar nicht mehr wahrnehmen, nur die maßlos in die Höhe getriebene Übertreibung. Mit diesem Über- treibungsfanatismus habe ich mich schon immer befriedigt, habe ich zu Gambetti gesagt. […] Meine Übertreibungskunst habe ich so weit geschult, dass ich mich ohne weiteres den größten Übertreibungs- künstler, der mir bekannt ist, nennen kann. Ich kenne keinen andern. Kein Mensch hat seine Übertreibungskunst jemals so auf die Spitze getrie- ben, habe ich zu Gambetti gesagt und darauf, dass ich, wenn man mich kurzerhand einmal fragen wollte, was ich denn eigentlich und insgeheim sei, doch darauf nur antworten könne, der größte Übertreibungskünstler, der mir bekannt ist. Darauf ist Gambetti wieder in sein Gambettilachen ausge- brochen und hat mich mit seinem Gambettilachen angesteckt, so lachten wir beide […] an diesem Nachmittag, wie wir noch niemals vorher gelacht hatten. Aber auch dieser Satz ist natürlich wieder eine Übertreibung, denke ich jetzt, während ich ihn aufschreibe, und Kennzeichen meiner Übertrei- bungskunst. […] Je älter ich werde, desto mehr flüchte ich in meine Übertreibungskunst, habe ich zu Gambetti gesagt. […] Der Maler, der nicht übertreibt, ist ein schlechter Maler, der Musiker, der nicht übertreibt, ist ein schlechter Musiker, sagte ich zu Gambetti, wie der Schriftsteller, der nicht übertreibt, ein schlechter Schriftsteller ist, wobei es ja auch vorkommen kann, dass die eigentliche Übertreibungskunst darin besteht, alles zu untertrei- ben, dann müssen wir sagen, er übertreibt die Untertreibung und macht die übertriebene Unter- treibung so zu seiner Übertreibungskunst, Gambetti. Das Geheimnis des großen Kunstwerks ist die Übertreibung, habe ich zu Gambetti gesagt […]. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 AUFGABEN > Worin sieht der IchErzähler die Notwendigkeit und zugleich das Wesentliche von Literatur und Kunst? > Welches – für Bernhards Gesamtwerk charakteristische – Stilmittel kennzeichnet den Text? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=