Literaturräume, Schulbuch
384 DIe gegenWartslIteratur – mIt österreIchschWerpunkt letzten Interview Bernhards kann man in der Art der Bernhard ´ schen Pointierung und Übertreibung lesen: „Jeder liebt sein Land. Ich auch. Nur den Staat mag ich nicht.“ Nicht zu vergessen ist außerdem, dass Bernhard sich auch als Humorist begriff, der, so der Autor wörtlich, seine Heimat als „Weltkomödie Österreich“ sah. Österreicher, insbesondere Wiener, gehen nur wenige ins Kunsthistorische Museum, wenn ich von den Tausenden von Schulklassen absehe, die jedes Jahr ihren Pflichtbesuch im Kunsthistorischen Museum absolvieren. Die Schulklassen werden von ihren Lehrern oder Lehrerinnen durch das Museum geführt, was auf die Schüler eine verheerende Wirkung ausübt, denn die Lehrer würgen bei diesen Besuchen im Kunsthistorischen Museum jede Empfindsamkeit in diesen Schülern der Malerei und ihren Schöpfern gegenüber mit ihrer schulmeister- lichen Beschränktheit ab. Stumpfsinnig, wie sie im allgemeinen sind, töten sie in den ihnen anver- trauten Schülern sehr bald jedes Gefühl nicht nur für die Malkunst, und der von ihnen angeführte Museumsbesuch ihrer sozusagen unschuldigen Opfer wird durch ihre Stumpfsinnigkeit und dadurch stumpfsinnige Geschwätzigkeit meistens zum letzten Museumsbesuch jedes einzelnen Schülers. Einmal mit ihren Lehrern in das Kunst- historische Museum hineingegangen, gehen diese Schüler dann ihr ganzes Leben nicht mehr hinein. Der erste Besuch aller dieser jungen Menschen ist zugleich ihr letzter. Die Lehrer vernichten bei diesen Besuchen das Kunstinteresse der ihnen anvertrauten Schüler für immer, das ist eine Tatsache. Die Lehrer verderben die Schüler, das ist die Wahrheit, das ist eine jahrhundertealte Tatsache, und die österrei- chischen Lehrer insbesondere verderben in den Schülern vor allem von Anfang an den Kunstge- schmack; alle jungen Menschen sind ja zuerst aufgeschlossen allem gegenüber, also auch der Kunst, aber die Lehrer treiben ihnen die Kunst gründlich aus; die in der Überzahl stumpfsinnigen Köpfe der österreichischen Lehrer gehen auch heute immer rücksichtslos vor gegen die Sehnsucht ihrer Schüler nach Kunst und überhaupt nach dem Künstle- rischen, von welchem alle jungen Menschen von Anfang an auf die natürlichste Weise fasziniert und begeistert sind. Die Lehrer sind aber durch und durch kleinbürgerlich und gehen instinktiv gegen die Kunstfaszination und Kunstbegeisterung ihrer Schüler vor, indem sie die Kunst und überhaupt alles Künstlerische auf ihren eigenen deprimierenden stupiden Dilettantismus herunterdrücken und in den Schulen die Kunst und das Künstlerische überhaupt zu ihrem ekelhaften Flöten und genauso ekelhaften wie stümperhaften Chorgesang machen, was die Schüler abstoßen muß. So versperren die Lehrer schon von Anfang an ihren Schülern die Zugänge zur Kunst. […] Auch ich habe diese Lehrer mit ihrem perversen Flötenspiel und mit ihrem perversen Gitarrenge- zupfe gehabt, die mich gezwungen haben, ein stupides sechzehnstrophiges Schillergedicht auswen- dig zu lernen, was ich immer als eine der fürchter- lichsten Bestrafungen empfunden habe. Auch ich habe diese Lehrer mit ihrer insgeheimen Menschen- verachtung als Methode gegenüber ihren machtlosen Schülern gehabt, diese sentimental-pathetischen Staatshandlanger mit dem erhobenen Zeigefinger. Auch ich habe diese schwachsinnigen Staatsvermitt- ler gehabt, die mir wöchentlich mehrere Male mit dem Haselnussstock die Finger geschwollen geschla- gen und meinen Kopf an den Ohren in die Höhe gezogen haben, so dass ich aus den heimlichen Weinkrämpfen nicht mehr herausgekommen bin. Heute ziehen die Lehrer nicht mehr an den Ohren und sie schlagen auch nicht mehr mit Haselnuss- stöcken auf die Finger, aber ihr Ungeist ist derselbe geblieben, ich sehe nichts anderes, wenn ich die Lehrer mit ihren Schülern hier im Museum an den so genannten Alten Meistern vorbeiziehen sehe […]. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 AUFGABEN > Lesen Sie folgenden Ausschnitt aus dem Roman „Alte Meister“, in dem der Musikphilosoph Reger und der Privatgelehrte Atzbacher ihre Beobachtungen im Kunsthistorischen Museum in Wien machen. > Fassen Sie zusammen, welches Anliegen der „Übertreibungskünstler“ Bernhard formuliert. AUFGABE > Lernen Sie Bernhard und seine Übertreibungskunst noch besser kennen und besuchen Sie die „Thomas BernhardZitatMaschine“ unter www.andromeda.at/lit/thb − 1.html! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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