Literaturräume, Schulbuch

387 Der leseraum Verfügung über den Ort: Verbot, bestimmte Räume überhaupt oder zu bestimmten Zeiten aufzusuchen, Kon­ trolle über Orte, in denen der Aufenthalt nicht vermieden werden kann; Beispiele: Betretungsverbot für Konferenzzimmer; Verfügung über die Zeit: fixe Zeiten für fixe Tätigkeiten, Kontrolle in Zeiten ohne Tätigkeit; Beispiel: Stundenplan; Möglichst intensive, wenig unterbrochene körperliche oder geistige Tätigkeit; Beispiel: Supplierstunden; Öffentliches System von Strafen und Belohnungen: Kundmachung von guten und schlechten Leistungen und Übertretungen, Spaltung der „Untergebenen“ in Gruppen, Erzeugung eines Konkurrenzsystems zur Steigerung der Leistung; Beispiele: Zeugnisverteilung, Schülerscheck; Schaffung einer Hierarchie von Überwachungen von oben nach unten: Ältere Schüler fühlen sich jungen überlegen und tragen so zu deren „Reglementierung“ bei; Unterbindung von „unkontrollierter“ Kommunikation; Beispiel: Verbot des Schwätzens; Uniformierung; Beispiel: Gehen in Zweierreihen, Schulkrawatte. Der Spaziergang Wir sollen in Gehordnung bleiben, […] wir sollen englisch sprechen, wir sollen uns nicht absondern. Wir sollen in Reih und Glied bleiben, nicht außer Rand und Band geraten, keine Extratour wollen, nicht aus der Reihe tanzen […]. Milla und ich […] formen mit dem Munde Wörter, die wie englisch ausgesprochen werden können, hinsichtlich unserer Lippenstellung, die auf Täuschung aus ist, weil doch die Wörter, die wir aussprechen, keine englischen sind […]. Die Ordnung Die Kästen, Garderoben und Nachttischladen werden einmal in der Woche kontrolliert, allerdings an verschiedenen, nicht vorherbestimmbaren Tagen. Wir haben dafür ordnungsgemäß Zettel angebracht, in deren Feldern wir römische oder arabische Ziffern vorfinden, die den Grad unserer Ordentlichkeit bestimmen. An der Tür zum Schlafsaal hängt eine Namensliste. Wer bei unerlaubtem Schwätzen ertappt wird, erhält einen Verweis in Form eines schwarzen Punktes. Drei schwarze Punkte machen das Maß voll, man darf mit einer empfindlichen Strafe rechnen. Wenn man vergessen hat, die Schuhe zu putzen, kann es geschehen, dass man um Mitternacht aus dem Schlaf gerissen wird und diese Arbeit allein und im kalten Keller auf das sorgfältigste nachzuholen hat. Lässt man sich andere Verstöße gegen die allgemeine Ordnung zuschulden kommen, ist es nicht ausgeschlossen, dass man nachts im finsteren Teil des Ganges zu knien hat, bis die Schlafsaal- schwester auf dem nächsten Rundgang einem erlaubt ins Bett zurückzukehren. Es ist aber auch durchaus möglich, dass die Schlafsaalschwester keinen Rundgang mehr macht und man irgendwann zitternd vor Kälte auf dem Fußboden erwacht und sich vor den Schatten der Gobelins ängstigt, die noch aus der Zeit stammen, als das Haus ein herrschaftliches war, und nicht weiß, ob man sich durch den dunklen Gang schleichen oder gleich hier sterben soll. Das Schlafen und das Strafen Der Schlafsaal könnte ein angenehmer Ort sein. Dass er es nicht oder nicht immer ist, hat seinen Grund darin, dass wir meist still sein müssen. Solange Licht brennt, ist uns erlaubt zu reden, doch wird diese Erlaubnis sofort rückgängig gemacht, wenn unser Reden über den Gang hinaus zu hören ist. Das ist der Fall, wenn die Hälfte von uns, das heißt je eine mit ihrer Nachbarin, spricht. Die Schlafsaalschwester tritt dann herein und gebietet uns mit der Hand zu schweigen. Wird das Schwei- gen gebrochen, können wir etwas erleben. Welche Strafe uns erwartet, hängt vom Ausmaß unseres Ungehorsams ab. Im Gegensatz zum „Einer für alle“ der Heilsgeschichte gilt dabei „Alle für einen“. Wenn wir bestraft worden sind und der Fall für die Präfektin, der er unterbreitet wird, erledigt ist, gehen wir selbst ans Werk. Diejenige, die die Strafe ausgelöst hat, erhält einen Denkzettel. Das muss sein, wo bliebe sonst die Gerechtigkeit. Der Schlafsaal ist der Ort, an dem wir die Nacht verbringen. Wo wir lachen, wenn es einen Anlass gibt – mit vorgehaltener Hand, den Umständen entsprechend –, und wo wir weinen, wenn es sein 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 AUFGABEN > Welche Aspekte des „geschlossenen Systems“ Klosterschule finden Sie in den folgenden Ausschnitten? > Welche Umgehungsmöglichkeiten für Gebote/Verbote und welche Rückzugsmöglichkeiten haben die Mädchen? Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv

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