Literaturräume, Schulbuch

388 DIe gegenWartslIteratur – mIt österreIchschWerpunkt 10 „Erika weiß die Richtung, in die sie gehen muss.“ Elfriede Jelinek: „Die Klavierspielerin“ (1983) Peepshows statt Beziehung Die 36jährige Klavierlehrerin Erika Kohut lebt in der Wiener Josefstadt. Der Vater wurde ins Irrenhaus abgescho­ ben, in der Familie herrscht die Mutter. Ihre Erziehungsmethoden sind Dressur und Terror. Wenn Erika nach Hause kommt, lauert ihr die Mutter auf, quetscht sie aus. Das Ziel: Die Tochter soll als Eigentum der Mutter de­ ren Lebensenttäuschungen kompensieren. Das Ergebnis: Erika kann mit den Menschen nur nach dem Prinzip von Macht und Unterwerfung verkehren. Sie ist unfähig, Gefühle zu zeigen, und versteckt sich hinter der Fassade der strengen Klavierlehrerin. Erika erlebt Sexualität nur in Peepshows und masochistischen Selbstverstümme­ lungen. Walter Klemmer, einer ihrer Schüler, setzt sich in den Kopf, sie zu verführen. Erika kann ihre Sexualität nur als Verlangen nach Bestrafung artikulieren, hofft aber eigentlich, Klemmer würde ihre Einladung zu sadis­ tischer Betätigung aus Liebe ausschlagen. Doch Klemmer versteht nicht, dass Erikas Masochismus ihre Form der Suche nach Zuneigung ist, und vergewaltigt sie. Der Schluss des Romans: Am Tag nach der Vergewaltigung geht Erika Kohut, von Jelinek abwechselnd als „die Frau“ und „Erika“ dargestellt, zur Technischen Universität, wo Klemmer studiert. Sie hat ein Messer in der Handtasche. muss – wenn wir glauben, dass alle anderen schlafen. […]. Im Schlafsaal denken wir am häufigsten an zu Hause, aber genauso häufig wird uns zu Bewusstsein gebracht, dass wir nicht zu Hause sind. Hoch und niedrig Ansonsten ist die höhere Schule einer Leiter vergleichbar, auf der Schüler und Schülerinnen, ihrem Verdienst entsprechend, emporsteigen. Es fördert den gesunden Wettbewerb, dass die Schüle- rinnen der höheren Klassen von denen der nied- rigeren eine gewisse Achtung verlangen, wahrend sie selbst mit einer gewissen Verachtung auf dieselben herabsehen. Aller Anfang ist schwer, und so ist auch der erste Schritt aufwärts der am heißesten ersehnte. Besteht doch erst danach die Möglichkeit, nicht nur etwas über sich, sondern auch etwas unter sich zu haben. 64 66 68 70 72 74 76 78 80 Ihr warmes Messer in ihrer Tasche umklammert Erika und geht durch Straßen zu Fuß in Richtung ihres Ziels. Sie bietet einen ungewohnten Anblick, wie dazu gemacht, Menschen zu fliehen. Die Leute scheuen sich nicht zu starren. Sie machen im Umdrehen Bemerkungen. Sie schämen sich nicht ihrer Meinung über die Frau, sie sprechen sie aus. In ihrem unentschlossenen Halbminikleid wächst Erika zu voller Höhe empor, mit Jugend in scharfen Wettkampf tretend. […] Ein Männerauge signali- siert Erika, sie sollte nicht ein so kurzes Kleid tragen. So schöne Beine hat sie nun auch wieder nicht! […] Erika Kohut entdeckt Walter Klemmer inmitten einer Gruppe von gleichgesinnten Studenten in verschiedenen Stadien des Wissens, die miteinander laut herumlachen. Aber nicht über Erika, die sie gar nicht wahrnehmen. Es wird lautstark demonstriert, dass Walter Klemmer heute nicht blaugemacht hat. Er hat sich von dieser Nacht nicht länger ausruhen müssen als von anderen Nächten. Erika zählt drei Jungen und ein Mädchen, das ebenfalls etwas Technisches zu studieren scheint und damit eine technische Novität bildet. Das Mädchen wird von Walter Klemmer fröhlich umschultert. Es lacht laut auf und birgt seinen blonden Kopf kurz an Klem- mers Hals, welcher seinerseits einen blonden Kopf zu tragen hat. Das Mädchen kann vor lauter Lachen nicht stehen, wie es mittels Körpersprache aussagt. Das Mädchen muss sich auf Klemmer stützen. Die anderen pflichten ihm bei. Auch Walter Klemmer lacht voll auf und schüttelt sein Haar. Sonne umfängt ihn. Licht umspielt ihn. Laut lacht Klem- mer weiter, und die anderen stimmen vollhalsig zu. Was ist denn gar so komisch, fragt ein später Hinzugekommener und muss sofort hell mitlachen. Er wird angesteckt. Es wird ihm etwas in prustenden 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 AUFGABE > Diskutieren Sie darüber, welche Aspekte der „geschlossenen Systeme“ für das Funktionieren zum Beispiel einer Schule unerlässlich sind, welche Prinzipien Ihrer Ansicht nach gelockert werden sollten oder welche vielleicht sogar Ihrer Ansicht nach verstärkt werden müssten. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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