Literaturräume, Schulbuch
11 „Ich muss nur die Praterhauptallee hinauf- und hinunterrennen, dann kann ich das Schokoeis von heute Nacht vergessen!“ Marlene Streeruwitz: „Jessica, 30.“ (2004) 91 Seiten in einem Satz In drei Kapitel gliedert Marlene Streeruwitz ihren Roman. Kapitel eins be steht aus einem 91 Seiten langen ununterbrochenen EinSatzMonolog Jes sicas. Kapitel zwei: 84 Seiten, die Hälfte ein innerer Monolog Jessicas, die andere Hälfte ein Dialog mit Gerhard, ihrem verheirateten Liebhaber, einem Politiker in hoher Stellung. Kapitel drei: 80 Seiten, ein innerer Monolog Jes sicas in einem Satz, kein Absatz, nur Beistriche. Die Form ist perfekt dem Thema angepasst. Jessica denkt über ihre Rolle in der Gesellschaft nach. Sie ist Journalistin bei einem LifestyleMagazin, dessen Redaktionsteam, geleitet von den einstigen WGFreundinnen Claudia, Mia und Tanja, für Jessica nichts als eine „Tussenriege“ ist. Jessica – sie selbst nennt sich Issi – ist intelli gent genug, um zu erkennen, dass Beruf, Männerwelt und Gesellschaft einer Frau drei Aufgaben zuschanzen: Attraktivsein, Funktionieren, Konsumieren. Jessicas Dilemma: Trotz ihres Durchblicks möchte sie genau so sein, wie man sie sehen will: schön, erfolgreich, anerkannt, reich. 389 Der leseraum Stößen geschildert, und nun weiß er erst, worüber er lacht. Er übertrifft die andern noch, weil er eine Zeitspanne an Lachen nachzuholen hat. Erika Kohut steht da und sieht. Sie schaut zu. Es ist heller Tag, und Erika schaut zu. Als die Gruppe genügend gelacht hat, wendet sie sich dem Gebäude der technischen Universität zu, um es zu betreten. Dazwischen müssen sie immer wieder herzlich auflachen. Sie unterbrechen sich selbst durch Lachen. Fenster blitzen im Licht. Ihre Flügel öffnen sich dieser Frau nicht. Sie öffnen sich nicht jedem. Kein guter Mensch, obwohl nach ihm gerufen wird. Viele wollen gerne helfen, doch sie tun es nicht. Die Frau dreht den Hals sehr weit zur Seite und bleckt das Gebiss wie ein krankes Pferd. Keiner legt eine Hand an sie, keiner nimmt etwas von ihr ab. Schwächlich blickt sie über die Schulter zurück. Das Messer soll ihr ins Herz fahren und sich dort drehen! Der Rest der dazu nötigen Kraft versagt, ihre Blicke fallen auf nichts, und ohne einen Aufschwung des Zorns, der Wut, der Leidenschaft sticht Erika Kohut sich in eine Stelle an ihrer Schulter, die sofort Blut hervorschießen lässt. Harmlos ist diese Wunde, nur Schmutz, Eiter dürfen nicht hineingeraten. Die Welt steht, unverwundet, nicht still. Die jungen Leute sind gewiss für lange im Gebäude verschwunden. Ein Haus grenzt an das andere. Das Messer wird in die Tasche zurückgelegt. An Erikas Schulter klafft ein Riss, widerstandslos hat sich zartes Gewebe geteilt. Der Stahl ist hineingefahren, und Erika geht davon. Sie fährt nicht. Sie legt sich eine Hand an die Wunde. Niemand geht ihr nach. […] Erikas Rücken, an dem der Reißverschluss ein Stück offensteht, wird gewärmt. Der Rücken wird von der immer kräftiger werdenden Sonne leicht angewärmt. Erika geht und geht. Ihr Rücken wärmt sich durch Sonne auf. Blut sickert aus ihr heraus. Menschen blicken von der Schulter zum Gesicht empor. Einige wenden sich sogar um. Es sind nicht alle. Erika weiß die Richtung, in die sie gehen muss. Sie geht nach Hause. Sie geht und beschleunigt langsam ihren Schritt. 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 Marlene Streeruwitz AUFGABEN > Welche Erwartungshaltung bei den Leser/Leserinnen und welche Spannung baut die Autorin auf, wo wird diese Spannung aufgelöst? Wie deuten Sie die beiden Sätze „Erika weiß die Richtung, in die sie gehen muss. Sie geht nach Hause“ ? Welches Stilmittel prägt den Text? > Schauen Sie die Verfilmung des Romans unter der Regie von Michael Haneke mit Isabelle Huppert (2001) an. Der Film wurde beim Filmfestival in Cannes mit vielen Preisen gefeiert. Huppert: „Michael Haneke wollte, dass die Zuschauer so peinlich berührt sind, dass sie nicht mehr auf die Leinwand schauen können.“ Haneke fügt der Handlung des Romans noch drastische Elemente hinzu. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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