Literaturräume, Schulbuch
400 DIe gegenWartslIteratur – mIt österreIchschWerpunkt 18 „Das nächste Mal ist Gas drinnen.“ Erich Hackl: „Familie Salzmann. Eine Geschichte aus unserer Mitte“ (2010) Ein genauer Beobachter „Wenn Hackl von einem Kastanienbaum schreibt, den man 1943 durchs Fenster des Vernehmungsraums im Pariser Polizeigefängnis sehen konnte, so darf man sicher sein: den gab es“ , so charakterisiert ein Literaturkritiker die Ar beitsweise Erich Hackls. Hackl erfindet nicht, er beobachtet und dokumentiert. In einer klaren Sprache berichtet er über das Unrecht, das in „unserer Mitte“ geschieht. Alle Ausschnitte aus „Familie Salzmann“ sind in Original schreibung wiedergegeben. Der Beginn des Berichts und die Andeutung des Unglücks Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts […] trat der damals vierundzwanzigjährige Hanno Salzmann eine Stelle als Kanzleikraft der Steiermärkischen Gebiets- krankenkasse in Graz an. Die ihm zugewiesene Arbeit in der Beitragsabteilung verrichtete er nach bestem Wissen und Gewissen. […] Er war beschei- den, dabei hilfsbereit, von angenehmen Umgangs- formen, bemüht, seine Aufgaben rasch und zur Zufriedenheit aller Kollegen und Vorgesetzten zu erledigen. In der ersten Dienstbeschreibung vom 10. November 1994 wurde er jedenfalls als initiativ und fleißig, anhaltend belastbar, aufgeschlossen, kollegial, zur Zusammenarbeit gut geeignet und im Verhalten gegenüber anderen Mitarbeitern als sachlich, höflich und korrekt beurteilt. Von den lärmenden, bisweilen alkoholfeuchten Geselligkeiten in und nach den Amtsstunden hielt er sich fern. Hannos Unglück begann, als er sich mit Jochen Koraus, einem gleichaltrigen Kollegen, anfreundete. Die beiden gingen gemeinsam weg, ins Kino, auf den Fußballplatz und zum Schachspielen in ein Café, nachdem Koraus eines Tages unvermutet, ohne vorherige Aufforderung oder Nachricht, vor der Tür gestanden war, mit einem gewinnenden Lächeln und einem blühenden Weihnachtsstern als Gastgeschenk für Hannos Mutter. Sie und der Vater waren erleichtert darüber, daß ihr jüngerer Sohn an seinem Arbeitsplatz schnell Anschluß gefunden hatte, weil sie seit ihrer Pensionierung wenig Kontakt zur Außenwelt hielten und mit Sorge beobachtet hatten, daß er dazu neigte, ihre zurückgezogene Lebensweise nachzuahmen. Der ältere, Peter, war von Geburt an schwer behindert […]. Sie waren und blieben Fremde in Graz, auch wenn sie schon seit Jahr- zehnten hier gelebt und gearbeitet hatten, das sagte ihnen ihr Instinkt, aber es war gerade das unklare Empfinden, nirgendwo dazuzugehören, das sie besonders wehrlos machte, als Hanno vom Strudel der Ereignisse erfaßt wurde. Später, als sie zu grübeln anfingen, wie alles gekommen war, konnten sie nicht umhin, Koraus zu verdächtigen, sein durch die Freundschaft mit ihrem Sohn erworbenes Wissen im Büro ausgeplaudert zu haben, denn die Attacken auf Hanno verrieten eine intime Kenntnis der Familien- verhältnisse […]. Es war vor allem dieser eine beiläufig geäußerte Satz, der Hanno nachhaltig schaden sollte: Meine Oma ist in einem KZ umge- kommen. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 AUFGABEN > Fassen Sie zusammen, was Sie über den Ort und die Zeit des Geschehens erfahren, über Hannos Beruf und Charakter und über die Lebensweise der Familie. > Wie beurteilen Vater und Mutter Hannos Art zu leben? > Welche Person wird mit dem kommenden Unglück Hannos in Verbindung gebracht, welcher Satz Hannos ist das auslösende Moment dafür? Oma Salzmann Geboren wurde die Oma als Juliana Sternad 1909 in der Steiermark, in Kothvogl bei Stainz, Steiermark. Der Va ter: Schuhmacher, die Mutter: Ziegelarbeiterin; die soziale Lage: Armut. Juliana zieht nach Deutschland, lernt Hugo Salzmann kennen, heiratet ihn. Er kämpft gegen die Nationalsozialisten, muss fliehen, geht mit seiner Frau und dem gemeinsamen Kind nach Frankreich, wird dort verhaftet, an Deutschland ausgeliefert und verurteilt. Er überlebt NSHerrschaft und Krieg. Juliana Salzmann stirbt 1944 im KZ Ravensbrück. Der Sohn, auch er ein „Hugo“, wird von Julianas Schwester in Kothvogl aufgezogen. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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