Literaturräume, Schulbuch
404 DIe gegenWartslIteratur – mIt österreIchschWerpunkt 20 „Niemand zu sehen.“ Thomas Glavinic: „Die Arbeit der Nacht“ (2006) Jonas wacht auf Es ist der 4. Juli. Jonas, 35, Einrichtungsberater, der mit seiner Freundin in Wien lebt, steht auf. Wien ist Wien ge blieben, die Straßen, die Gebäude, die Sehenswürdigkeiten. Nur eines hat sich verändert, wie Sie gleich zu Beginn des Romans, den Sie hier in Originalschreibung finden, feststellen können: rücklings, in den hinteren Beinen war ein heftiges Zittern, das den ganzen Körper ergriff und wieder abnahm und unscheinbar wurde und schließlich verebbte, während die Schaufeln wild gegen den Kopf prallten und nicht aufhören wollten, wie bettelnd gegeneinander zu schlagen, das Maul ging auf und ging zu, und der Bauch sank jetzt ein und blieb flach und hatte seinen Schimmer verloren, bis auf die Stellen, an denen sich Ameisen zu schaffen machten, scharenweise kamen die aus dem Gras und stülpten sich über den Körper, die Schaufeln schlugen nicht mehr und hingen reglos ins Gras, das Maul stand jetzt offen und weit, die Ameisen krochen hinein und heraus und machten sich mit ihrer Beute davon und saugten und nagten an dem Körper und höhlten ihn aus, bis er leicht genug war, eine Hülse, die trugen sie fort. 68 70 72 74 76 78 80 82 „Guten Morgen!“ rief er in die Wohnküche. Er trug das Frühstücksgeschirr zum Tisch, nebenbei drehte er den Fernseher auf. […] Der Bildschirm flim- merte. Er schaltete von ORF zu ARD. Kein Bild. Er zappte zu ZDF, RTL, 3sat, RAI: Flimmern. Der Wiener Lokalsender: Flimmern. CNN: Flimmern. Der französische, der türkische Sender: kein Empfang. Vor der Tür lag statt des Kurier auf dem Fußabstreifer nur ein alter Reklamezettel, den er aus Faulheit noch nicht entfernt hatte. […] Er setzte sich an den Computer, um Mails abzurufen und die Weltnachrichten zu überfliegen. Die Startseite des Browsers war die Homepage von Yahoo. Statt dessen erschien eine Server-error-Meldung. „Ja Himmel- donnerwetter noch einmal!“ Da ihm noch Zeit blieb, wählte er die Nummer von Telekabel. Das Band, das Anrufer weitervermittelte, schaltete sich nicht ein. Er ließ es lang läuten. An der Bushaltestel- le entnahm er dem Aktenkoffer die Wochenendbei- lage der Zeitung, für die er an den Tagen zuvor keine Zeit gehabt hatte. Die Morgensonne blendete ihn. […] Die Zeitung unter den Arm geklemmt, machte er ein paar Schritte. Als er den Kopf hob, stellte er fest, daß außer ihm niemand zu sehen war. Daß kein Mensch da war und daß keine Autos fuhren. Ein Scherz, kam ihm in den Sinn. Und: Es muß Feiertag sein. Ja, das erklärte einiges: ein Feiertag. An einem Feiertag lassen sich die Techniker von Telekabel mehr Zeit, um eine defekte Leitung zu reparieren. Und die Busse fahren in längeren Intervallen. Und es sind weniger Leute auf der Straße. Bloß war der 4. Juli kein Feiertag. Jedenfalls nicht in Österreich. Er lief zum Supermarkt an der Ecke. Geschlossen. Er legte die Stirn gegen die Scheibe und beschattete die Augen mit den Händen. Niemand zu sehen. Also doch Feiertag. Oder ein Streik, dessen Ankündigung er verpaßt hatte. Während er wieder auf die Halte- stelle zuging, blickte er sich um, ob der 39A nicht doch um die Ecke bog. Er rief Maries Mobiltelefon an. Sie meldete sich nicht. Nicht einmal das Band schaltete sich ein. Er wählte die Nummer seines Vaters. Auch der meldete sich nicht. Er versuchte es im Büro. Niemand hob ab. […] Verwirrt steckte er das Telefon in die Sakkotasche. In diesem Moment wurde ihm bewußt, daß es vollkommen still war. Er ging zurück in die Wohnung. Er schaltete den Fernseher ein. Flimmern. Er schaltete den Computer ein. Server error. Er schaltete das Radio ein. Rau- schen. Er setzte sich auf die Couch. Er konnte keine Ordnung in seine Gedanken bringen. Seine Hände 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 AUFGABEN > Beschreiben Sie den Weg des „Es“, seine Anstrengungen und sein Aussehen. Um welches Tier könnte es sich handeln? > Wo beginnt die „Katastrophe“ des Tieres, wo findet sein endgültiger „Untergang“ statt? > Beschreiben Sie den für die Erzählung charakteristischen Satzbau! > An welche Erzählung Franz Kafkas erinnert Hotschnigs Text? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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