Literaturräume, Schulbuch
411 der leseraum 23 „Jetzt bin ich gerettet.“ Ingeborg Bachmann: „Kriegstagebuch“ (geschrieben 1944/1945, veröffentlicht 2010) Ein Buch aus drei Teilen: Tagebuch, Briefe, Nachwort des Herausgebers Es ist nicht nur die Tatsache, dass das „Kriegstagebuch“ erst 65 Jahre nach dessen Abfassung veröffentlicht wird, die das Buch aus der zeitgenössischen österreichischen Literatur heraushebt, sondern auch die Zusammenset zung des gerade hundert Seiten umfassenden Bandes. Ingeborg Bachmann: Kriegstagebuch. Mit Briefen von Jack Hamesh an Ingeborg Bachmann. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Höller – so lautet der voll ständige Titel des Buches. Er weist auf die drei annähernd gleich großen Teile des Bandes hin: Ingeborg Bach manns Tagebuch, die Briefe, die Hamesh zwischen Ostern 1945 und Sommer 1947 an seine Freundin Ingeborg Bachmann geschrieben hat, und drittens das Nachwort des Herausgebers. Aus allen drei Teilen wird in der Folge in Originalschreibung zitiert. Das Tagebuch – die letzten Tage im Krieg und die Rettung durch die „verhasste Lehrerbildungsanstalt“ „Mein liebes Tagebuch, jetzt bin ich gerettet.“ Mit diesen Worten und dem Nachsatz „Ich muss nicht nach Polen und nicht zur Panzerfaustausbildung“ beginnt Bachmanns „Kriegstagebuch“. 1944, für Nazi-Deutschland war der Krieg bereits verloren, versuchten die NS-Befehlshaber noch Kinder und Jugendliche in den Krieg zu werfen. Doch die 18-jährige Ingeborg Bachmann hat Glück: „Kriegswichtig“ sind für das Regime auch Lehrerinnen und Lehrer. So kann sie in Klagenfurt in die „verhasste Lehrerbildungsanstalt“ eintreten. Verhasst, weil fast alle „Mädeln in der Klasse […] Fanatikerinnen sind“ , die noch an den „Endsieg“ glauben. Verhasst auch deshalb, weil die Lehrer bildungsanstalt, insbesondere der Direktor Anderluh, voll der Nazi-Ideologie ist: „Er [Anderluh] ist wie ein Wahn- sinniger. In der Früh hat er bei Wilma ihr Silberketterl mit dem Kreuz gesehen und sie fast die Stiege hinuntergewor- fen vor Wut.“ Verhasst ist ihr die Anstalt auch deshalb, weil Bachmann sieht, was die Autoritäten den Kindern noch im totalen Zusammenbruch antun wollen. So lässt der Direktor die Schüler/innen, während schon die „Tiefflieger auf die Züge geschossen haben“ , sinnlose Verteidigungsgräben um Klagenfurt ausheben. Freilich: „Alle Kinder waren da zum Schaufeln, aber keine einzige Lehrperson, auch Anderluh natürlich nicht.“ Bachmann ist bereit, aus dieser Un terdrückung zu entfliehen: „Wilma hat Angst, dass wir wegen Desertion erschossen werden könnten. Aber in die- sem Wirbel halt ichs für ausgeschlossen, dass sich jemand um uns kümmert.“ Wo es geht, versucht sie sich der NS-Ideologie zu entziehen. Wichtig sind ihr dabei vor allem Bücher, insbesondere die von der NS-Ideologie miss achteten oder verbotenen: „Ich habe einen Sessel in den Garten gestellt und lese. Ich habe mir fest vorgenommen weiterzulesen, wenn die Bomben kommen. […] Gestern ist das größte Geschwader gekommen, das je da war. […] Vielleicht ist es sündhaft, einfach sitzen zu bleiben und in die Sonne zu schauen.“ So wie sie nicht zu den fanatischen Mitschülerinnen gehören will, so auch nicht zu den Erwachsenen: „Die Erwachsenen, die Herren ‚Erzieher‘, die uns umbringen lassen wollen.“ „Nein, mit den Erwachsenen kann man nicht mehr reden“ , so lautet der Schlusssatz des ersten Teils des „Kriegstagebuchs“. Das Tagebuch – die ersten Tage im Frieden und der „schönste Sommer meines Lebens“ So freudig, wie das Tagebuch der letzten Kriegswochen begonnen hat, so begeistert ist auch das Tagebuch der ersten Friedenmonate: „Das ist der schönste Sommer meines Lebens, und wenn ich hundert Jahre alt werde.“ Nun sind alle Zukunftsmöglichkeiten offen, frei von Zwängen: „Ich werde studieren, arbeiten, schreiben! Ich lebe ja, ich lebe. O Gott, frei sein und leben, auch ohne Schuhe, ohne Butterbrot, ohne Strümpfe, ohne, ach was, es ist eine herr- liche Zeit!“ Dass es der „schönste Sommer“ ist, daran hat auch ein englischer Besatzungssoldat großen Anteil. Ingeborg Bach mann ist mit Mutter und Geschwistern unmittelbar vor Kriegsende nach Obervellach bei Hermagor geflüchtet und braucht einen Personalausweis, den für die britische Besatzungsbehörde der Exilösterreicher Jack Hamesh – diesen Namen hat er im Exil angenommen – ausstellt. Weitere Begegnungen folgen: Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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