Literaturräume, Schulbuch

412 DIe gegenWartslIteratur – mIt österreIchschWerpunkt Elf Briefe von Jack Hamesh, ein zweites Exil und „eine völlige Entwurzelung“ Im Juli 1946 verlässt Jack Hamesh Kärnten, um nach Palästina auszuwandern. Über die Gründe seiner Abreise steht in Ingeborg Bachmanns Tagebuch nichts. Dass es kein Abschied im Zorn war, zeigt ein Erinnerungsstück, das noch heute, wie der Herausgeber anmerkt, von der Familie Bachmann aufbewahrt wird, „ein Stück Packpa- pier eines Hilfspakets, das Jack Hamesh wohl Weihnachten 1946 von Israel aus an Ingeborg Bachmann nach Wien schickte und das mit der Schiffspost einen monatelangen Umweg über Australien nahm“. Hameshs Briefe wurden ebenfalls aus Bachmanns Nachlass zur Veröffentlichung freigegeben. Die (Antwort)briefe Ingeborg Bachmanns sind verschollen. 14. Juni Ich bin noch ganz durcheinander. Jack Hamesh war hier, diesmal ist er mit einem Jeep gekommen. Alle im Dorf haben natürlich geschaut, und die S. ist zweimal über den Bach gekommen, um in den Garten hereinzuschauen. Ich habe ihn in den Garten geführt […]. Ich weiss auch nicht mehr, was wir im Anfang geredet haben, aber dann auf einmal von Büchern, von Thomas [Mann] und Stefan Zweig und Schnitzler und Hofmannsthal. Ich war so glücklich, er kennt alles und er hat mir gesagt, er hätte nie gedacht, dass er ein junges Mädel finden würde in Österreich, das trotz der Nazierzie- hung das gelesen hat. Und auf einmal war alles ganz anders, und ich habe ihm alles erzählt von den Büchern. Er hat mir erzählt, dass er mit einem Kindertransport nach England gebracht worden ist im Jahr 38 mit andren jüdischen Kindern, er war eigentlich schon 18 Jahre alt damals, aber ein Onkel hat es fertig gebracht, seine Eltern waren schon tot. Jetzt weiss ich auch, warum er so gut deutsch spricht, er ist dann in die englische Armee gekom- men und jetzt, in den Besatzungszonen, arbeiten viele ehemalige Deutsche und Österreicher […], wegen der Sprache und weil sie die Verhältnisse im Land besser kennen. Wir haben bis zum Abend geredet, und er hat mir die Hand geküsst, bevor er gegangen ist. Noch nie hat mir jemand die Hand geküsst. Ich bin so verdreht und glücklich, und wie er fort war, bin ich auf den Wallischbaum [eine Apfelbaumart] gestiegen, es war schon dunkel, und ich hab geheult und mir gedacht, ich möchte mir nie mehr die Hand waschen. […] So ist das also. Alle reden über mich, und natürlich auch die ganze Verwandtschaft. „Sie geht mit dem Juden“. Und die Mutti ist natürlich ganz nervös wegen dem Tratsch, und sie kanns ja gar nicht verstehen, was für mich alles bedeutet! […] Und ich habe zu ihr gesagt, ich werde mit ihm zehnmal auf und ab durch Vellach und durch Hermagor gehen, und wenn alles Kopf steht, jetzt erst recht. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 Aus dem ersten Brief aus Palästina, 24. 7. 1946 […] Nun ist schon fast ein Monat vergangen und noch immer ist es mir nicht gelungen mich zu fassen […] Eine völlige Entwurzelung, eine Haltlosigkeit wie ich sie noch nie zuvor miterlebt hatte, diese letzte Zeit war für mich das schrecklichste was ich je erleben musste. […] Ich kann Dir leider noch sehr wenig schreiben denn noch befinde ich mich in einem Zustand in dem jedes Beginnen unmöglich ist und mit dem Beginnen ist es nicht einfach hier. Keine Wohnungen, keine Arbeit, keine Aussicht auf Besserung. Eines ist mir schon heute klar, ich werde schwer arbeiten müssen, werde Anfangs jede Arbeit annehmen müssen um Überhaupt meine Existenz fristen zu können. […] Wo sind die Tage mit Dir zusammen in Deinen lieben netten Zimmer in Euren schönen Garten. Immer wieder erinnere ich mich an jene herrlichen Stunden und noch jetzt kann ich kaum schreiben da mir allein ein einziger Gedanke an Dich und Dein liebes Heim schon die Tränen aus den Augen treibt. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 AUFGABEN > Fassen Sie zusammen, was Sie über Jack Hamesh erfahren. > An welches Gesprächsthema erinnert sich Ingeborg Bachmann? > Wie reagieren Dorfbevölkerung und Verwandte auf die Beziehung zwischen Bachmann und Hamesh, welche Reaktion zeigt die Autorin? > Beschreiben Sie, welche Charaktereigenschaften der Autorin sich aus den zitierten Stellen des „Kriegstagebuchs“ ableiten lassen! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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