Literaturräume, Schulbuch

Migranten/Migrantinnen und ihre Themen Ein geraffter Überblick über die „Migrationsliteratur“ birgt natürlich die Gefahr, allzu schablonenhaft zu sein. Trotzdem soll hier eine kurze Charakteristik gegeben werden. Manche Autorinnen/Autoren thematisieren die Verfolgung, der sie in ihrer ursprünglichen Heimat ausgesetzt waren. Dazu gehören die Bücher „Der König ver­ neigt sich und tötet“ (2004) und „Atemschaukel“ (2009) der Literaturnobelpreisträgerin von 2009, Herta Müller, die vor dem rumänischen Geheimdienst Securitate flüchtete. Müller emigrierte allerdings nicht nach Österreich, sondern nach Deutschland. Viele Texte berichten von den schmerzlichen Erfahrungen eines neuen Lebens au­ ßerhalb des Herkunftslandes und des vertrauten Umfelds. Häufig wird die von Verunsicherung geprägte Situati­ on deutlich, in der sich die Flüchtlinge und Ausgewanderten befinden. Das kann realistisch, faktengetreu gesche­ hen wie in den Büchern „Abschiebung“ und „Zwischenstationen“ des 1971 mit seiner Familie aus Russland ge­ flüchteten Vladimir Vertlib. Die Fremde kann aber auch ironisch-sarkastisch gesehen werden, wie im Roman „Herrn Kukas Empfehlungen“ des in Wien lebenden polnischen Autors Radek Knapp oder in den Texten des 1990 aus Bulgarien geflüchteten Dimitré Dinev . Die folgende Stelle stammt aus Dinevs 2005 erschienenem Er­ zählband „Ein Licht über dem Kopf“ . 419 der fokus Spas kam dahinter, dass nur die wenigsten Bulgaren und Rumänen, die er kannte, Arbeit hatten, dafür aber alle Polen. Sei es auch schwarz, sie hatten eine. Die Polen halfen einander gegenseitig. Mehr als die anderen. Es war besser, ein Pole zu sein. Grieche zu sein, war noch besser, das wusste Spas auch. Als Grieche hatte er gleich Arbeit gefunden, noch am Telefon. Aber er ging sich dann nicht vorstellen. Er war kein Grieche. Ein Pole aber brauchte kein anderer zu sein, er fand auch als Pole Arbeit. Ein Pole zu sein, war mehr, als einer Nationalität anzugehören. Ein Pole zu sein, war schon ein Beruf. Am schlimmsten waren die Schwarzafrikaner dran. Ein Afrikaner zu sein, war eine Strafe. Am besten war es, ein Österreicher zu sein. Darüber waren sich alle Flüchtlinge einig, deswegen waren sie ja auch hier. Ein Österreicher zu sein, war eine Erlösung. Spas und Ilija waren Bulgaren, und das bedeutete, auf der Suche zu sein, so wie viele andere Völker. Ein Bulgare war nur ein Flüchtling, einer unter vielen und unerlöst wie sie alle. Ein Bulgare zu sein, war nichts Besonderes. Es war ohne Bedeutung. Spas und Ilija waren Freunde. Und das bedeutete, zu zweit Arbeit zu suchen. Zu zweit ein Einzelbett und das Essen für eine Person zu teilen. Sie waren zwei Bulgaren. Zwei Bulgaren zu sein bedeutete, mit dem auszukommen, was eine Person braucht. Zwei Bulgaren bedeuteten so viel wie eine Person. Anfangs suchten sie gemeinsam, dann getrennt, denn getrennt konnten sie gleichzeitig an mehreren Orten suchen, und wenn sie getrennt waren, suchte jeder Arbeit für zwei. Sie putzten den Schnee weg, sie putzten Gärten, sie putzten Lager, und sie schauten mit Ehrfurcht hinauf auf die, die die Straßen putzten. Ihre orangefarbenen Gewänder leuchteten. Man sah sie von weitem, wie viele aufgehende Sonnen. Himmelskörper, die ihre festgezeichneten irdischen Wege gingen. Unerreichbar waren sie. Sie waren von einem anderen Stern. Sie waren Österrei- cher. Nur Österreicher durften bei der Müllabfuhr arbeiten. Arbeit war ein magisches Wort. Nie bekamen Spas und Ilija das deutlicher zu spüren. Die Straßenkehrer waren Zauberer. An ihren Fingern glänzten Goldringe, an ihren Hälsen Ketten, geheimnisvoll ineinandergeflochten wie Schlangen, wie Wächter verborgener Schätze. Die Straßenkehrer waren eingeweihte Alchimisten. Sie kannten das Geheimnis. Sie sammelten Müll, der sich in Gold verwandelte und an ihnen leuchtete. Spas und Ilija sehnten sich danach, von solchen Händen bekehrt zu werden. Sie schauten hingerissen. Wunderschön waren diese Österreicher. Wunderschön wie eine Erleuchtung. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 Der andere Blick auf Österreich Die aus anderen Kulturkreisen stammenden Autoren und Autorinnen ermöglichen uns aber auch einen neuen Blick auf Österreich und seine Eigenheiten. Deutlich wird dies zum Beispiel im Roman „Der Gedächtnissekretär“ (2005) des 1968 aus dem Iran geflüchteten Hamid Sadr. Der Ich-Erzähler, ein Student aus dem Iran namens Ardi, sucht einen Job und findet das Angebot eines Herrn Sohalt, der das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Wien foto­ grafiert hat und nun daraus einen Bildband machen will. Sohalt schickt den Studenten als seinen „Gedächtnis- sekretär“ mit den alten Fotos und Notizen durch Wien. Er soll den heutigen Zustand der Straßen und Häuser mit deren Zerstörung am Ende des Krieges vergleichen. Der Student lernt dabei ein Wien kennen, das ihn nicht mehr Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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