Literaturräume, Schulbuch

42 DIe DIchtung Des spätmIttelalters (1250–1450) Junge, alle Träume, die ich bisher geträumt habe, sind noch gar nichts – jetzt aber höre einen letzten Traum. Du hingst an einem Baum; von deinen Füßen waren es bis zum Gras gut zwei Meter; über deinem Kopf saßen auf einem Ast ein Rabe und daneben eine Krähe. Dein struppiges Haar kämmte dir rechts der Rabe, scheitelte dir links die Krähe. Ach, Junge, dieser Traum! Ach, Junge, dieser Baum! Ach, dieser Rabe! Ach, diese Krähe! Der leseraum 1 Der tödliche Fehler des Bauernsohnes Wernher der Gartenære: „Helmbrecht“ (um 1280) Wernher der Gartenære: lange unterschätzt, jetzt hoch gelobt Wernher des Gartenaeres nicht einmal 2000 Verse umfassende Erzählung „Helmbrecht“, entstanden um 1280, schildert den Ausbruchsversuch eines Bauern aus seinem Stand und führt gleichzeitig in die Welt der Ritter. Aber es sind nicht die idealen Ritter der Tafelrunde, wie Erec, Iwein oder Parzival. Es sind die Ritter der Realität. Erst seit sich in den letzten Jahren die Wissenschaft zunehmend dafür interessiert, wie sich das Leben der verschie­ denen Stände fern von der Idealisierung in der Literatur tatsächlich abgespielt hat, wird das Epos hoch geschätzt. Dem Autor wird bescheinigt, er habe den „Rang als einer der größten Dichter des 13. Jahrhunderts nach Walther, Hartmann, Wolfram, Gottfried und dem namenlosen letzten Gestalter des Nibelungenliedes“. In der Folge finden Sie in neuhochdeutscher Übertragung Ausschnitte aus dem Text mit Parallelen zur sozialen Wirklichkeit des späten 13. Jahrhunderts. Die höfische Kultur braucht die Bauern Sehr selbstbewusst sieht der alte Bauer, Vater Helmbrechts, im „Helmbrecht“ den Bauernstand: Alle Edelfrauen verdanken der Bauernarbeit ihre Schönheit, und alle Könige verdanken allein der Bauernarbeit ihre Krone. Denn wie vornehm einer auch ist, sein Stolz wäre nichtig, wenn es die Bauernarbeit nicht gäbe. Der alte Bauer warnt Gleichzeitig warnt er seinen Sohn, der nicht mehr Bauer sein will, davor, seinen sozialen Stand zu verlassen. Er erzählt ihm von vier Träumen, die er hatte. Träume gelten im Mittelalter viel, sie werden als Fingerzeig und Mah­ nung gesehen. Der letzte Traum des alten Bauern ist der schlimmste: Der junge Bauer will Ritter werden: der Reiz der feinen Kleidung Doch Helmbrecht ist ein fescher Bauernsohn mit langem Haar, einer von Mutter und Schwester prächtig gestickten seidenen Haube und einem prächtigen Rock. Und weil er so hübsch ist und so eine wunderbare Haube hat und noch dazu diesen prachtvollen Rock, fällt ihm Folgendes ein: 2 4 6 8 10 12 14 2 4 6 AUFGABE > Welches Schicksal des jungen Bauern deutet sich in diesem Traum an? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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