Literaturräume, Schulbuch
420 DIe gegenWartslIteratur – mIt österreIchschWerpunkt loslässt. Verstört durch die Bilder der Luftangriffe, Plünderungen, Hinrichtungen noch in den letzten Tagen des Krieges verliert er zusehends die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Nicht zuletzt sieht er eine Nähe zwischen den rassistischen Gedanken von damals und mancher Fremdenabwehr von heute. Einen spezifisch kritischen Blick auf Österreich wirft auch der in Israel geborene, in Wien lebende Autor Doron Rabino vici. Im Roman „Ohnehin“ (2004) befasst er sich mit dem Problem des Verdrängens der NSZeit, dargestellt an der Symbolfigur eines ehemaligen SSMannes, der sich nichts länger als 15 Minuten merken kann, weil er an einer besonderen Form des Gedächtnisschwunds leidet. Rabinovici zieht Parallelen zwischen den NSVerbrechen und den Bürgerkriegen der Gegenwart, wie dem Morden auf dem Balkan. Vor allem auch die Frage nach dem Verhalten der jungen Generation zu den NSVerbrechen beschäftigt Rabinovici. Die Kinder des alten SSMannes sind uneins, ob Vergessen eine Gnade oder eine Schande ist. Damit nimmt Rabinovici auch ein Thema auf, das der Autor Robert Schindel in seinem Roman „Gebürtig“ (1992) gestaltet hatte. Schindels Eltern waren in NSKonzentrationslager verschleppt worden, wo der Vater starb, Schindel selbst wuchs als „Asozialenkind“ in einem NSHeim auf. Schindel sieht nach wie vor eine „gläserne Wand“ zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Juden und NichtJuden, zwischen Überlebenden und Nachgeborenen. Für uns kein Problem, für andere schon Oft ist es für uns Belangloses, das für andere verstörend wirkt. Der kurdische Autor Sedat Demirdegmez zeigt diese befremdenden Kleinigkeiten in der Erzählung „Wahrscheinlichkeit“ . Die Hauptfigur flieht unter Lebens gefahr aus der Türkei nach Wien und wird dort in eine Wohnung eingeladen: Die Lust am Schreiben Doch das Thema der Fremdheit und der Ausgrenzung oder des kritischen Blicks auf die politische Vergangen heit und Gegenwart ist nur eine Seite des literarischen Schaffens der Migranten und Migrantinnen. Im Mittel punkt steht, wie der aus der Türkei stammende Ercüment Aytac erklärt, „die Lust am Schreiben. Das Spiel mit der Sprache. Die künstlerische Selbstverwirklichung.“ Diese Lust am Schreiben zeichnet auch die Texte von Barbi Marković aus, einer Serbin, die nach Wien gekom men ist, um Deutsch zu studieren. Ob man sie deshalb als Migrantin bezeichnen kann? Jedenfalls möchte auch sie, so wie viele, nicht mehr weg: „Jetzt bin ich fünf Jahre da und ich möchte eigentlich nicht mehr weg. Aber ob ich bleiben kann, weiß ich nicht.“ Besonders interessant ist, dass ihre Erzählung „Ausgehen“ (2009) ein serbisches Thema auf „Österreichisch“ präsentiert. Wir sitzen an einem Tisch in der Küche. Ein schwarzer Hund läuft durch die Wohnung, er gehört einer Mitbewohnerin. Sie hat sich gerade ihr Essen zubereitet und gibt auch ihrem Hund zu fressen. […] Die junge Frau hat auch kein Problem damit, in einem Raum, in dem ein Hund frisst, zu essen. Sie streichelt ihn sogar manchmal, während sie isst. Ich wasche meine Hände immer zwei Mal mit Seife, wenn ich einen Hund berührt habe. […] Ich nehme meine Zigaretten aus meiner Handtasche und biete allen, die gerade keine in der Hand haben, eine an. „Danke, ich habe meine eigenen“, sagt einer, und der Zweite sagt das Gleiche. Hier bietet man anscheinend nur dem Zigaretten an, der keine hat. Viele stellen Fragen über die politische Lage in Kurdistan und bringen Lösungsvorschläge. Sie machen einen Doppelliter Wein auf und diskutieren über Politik. Sie sind sehr interessiert. Ich bin erstaunt, dass sie Alkohol trinken, während sie über Politik sprechen, und mit roten Augen über Werte urteilen, für die ich gekämpft habe. Die Diskussion hat kein Ende. Ich möchte gehen. Als wir uns verabschieden, steht wieder niemand auf. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 INFO Ein Klassiker über das schwierige Zusammen- leben von Mehrheit und Minderheit Die Spannungen im Zusammenleben von nicht deutschsprachiger „Mehrheit“ und deutschspra chiger „Minderheit“ thematisiert der auch verfilmte Roman „Die Walsche“ (1986). Der Südtiroler Autor Joseph Zoderer schildert darin die Beziehung der aus einem Bergdorf stammen den deutschsprachigen Südtirolerin Olga zu einem nach Bozen zugewanderten Italiener. Die Fremdheit der Kultur des jeweils anderen, das Ausgestoßenwerden der Frau aus der eigenen Kultur, die Differenzen zwischen bäuerlichem Dorf und modernem Großstadtleben machen die Spannung des Buches aus. Zoderer selbst sieht sich als „deutschsprachige[n] Autor mit österreichischer kultureller Prägung mit italienischem Pass“ . Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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