Zeitbilder 4, Arbeitsheft
23 Untrennbar verbunden: Jüdisches Leben und Kunst und Wissenschaft in der Zwischenkriegszeit Die Welt von Gestern Q In kaum einer Stadt Europas war nun der Drang zum Kulturellen so leidenschaftlich wie in Wien. Gerade weil die Monarchie, weil Österreich seit Jahrhunderten weder politisch ambitioniert noch in seinen militärischen Aktionen besonders erfolgreich gewesen, hatte sich der heimatliche Stolz am stärksten dem Wunsche einer künstlerischen Vorherrschaft zugewandt. Von dem alten Habsburgerreich, das einmal Europa beherrscht, waren längst wichtigste und wertvollste Provinzen abgefallen, deutsche und italienische, flandrische und wallonische; unversehrt in ihrem alten Glanz war die Hauptstadt geblieben, der Hort des Hofes, die Wahrerin einer tausendjährigen Tradition. (...) Es war wundervoll hier zu leben, in dieser Stadt, die gastfrei alles Fremde aufnahm und gerne sich gab, es war in ihrer leichten, wie in Paris mit Heiterkeit beschwingten Luft natürlicher das Leben zu genießen. (...) Nun ist Anpassung an das Milieu des Volkes oder des Landes, inmitten dessen sie wohnen, für Juden nicht nur eine äußere Schutzmaßnahme, sondern ein tief innerliches Bedürfnis. Ihr Verlangen nach Heimat, nach Ruhe, nach Rast, nach Sicherheit, nach Unfremdheit drängt sie, sich der Kultur ihrer Umwelt leidenschaftlich zu verbinden. Und kaum verwirklichte sich eine solche Bindung glücklicher und fruchtbarer als in Österreich. (...) Denn gerade in den letzten Jahren war das Wiener Judentum künstlerisch produktiv geworden, allerdings keineswegs in einer spezifischen jüdischen Weise, sondern indem es durch ein Wunder der Einfühlung dem Österreichischen, dem Wienerischen den intensivsten Ausdruck gab. Goldmark, Gustav Mahler und Schönberg wurden in der schöpferischen Musik internationale Gestalten, Oscar Straus, Leo Fall, Kálmán brachten die Tradition des Walzers und der Operette zu einer neuen Blüte, Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Beer-Hofmann, Peter Altenberg gaben der Wiener Literatur einen europäischen Rang, wie sie ihn nicht einmal unter Grillparzer und Stifter besessen, Sonnenthal, Max Reinhardt erneuerten den Ruhm der Theaterstadt über die ganze Erde, Freud und die großen Kapazitäten der Wissenschaft lenkten die Blicke auf die altberühmte Universität – überall, als Gelehrte, als Virtuosen, als Maler, als Regisseure und Architekten, als Journalisten behaupteten sie im geistigen Leben Wiens unbestritten hohe und höchste Stellen. Durch ihre leidenschaftliche Liebe zu dieser Stadt, durch ihren Willen zur Angleichung hatten sie sich vollkommen angepasst und waren glücklich, dem Ruhme Österreichs zu dienen; sie fühlten ihr Österreichertum als eine Mission vor der Welt, und – man muss es um der Ehrlichkeit willen wiederholen – ein Gutteil, wenn nicht das Großteil all dessen, was Europa, was Amerika als den Ausdruck einer neu aufgelebten österreichischen Kultur heute bewundert in der Musik, in der Literatur, im Theater, im Kunstgewerbe ist aus dem Wiener Judentum geschaffen gewesen, das selbst wieder in dieser Entäußerung eine höchste Leistung seines jahrtausendalten geistigen Triebes erreichte. (Stefan Zweig, Die Welt von Gestern) Arbeitsauftrag 1: Lies den Textausschnitt sorgfältig durch. Berichte deiner Banknachbarin oder deinem Banknachbarn, wie Stefan Zweig das Leben der jüdischen Bevölkerung in Wien beschreibt. Arbeitsauftrag 2: Im Text nennt Stefan Zweig einige Persönlichkeiten. Findet heraus, wer diese Menschen waren. Bildet mehrere Kleingruppen und wählt eine dieser Persönlichkeiten oder auch den Autor aus. Erarbeitet einen kurzen Steckbrief über das Leben und die Leistungen dieser Person. Gestaltet mit euren Steckbriefen eine Wandzeitung. Zu den Schulbuchseiten 36, 37, 38 und 39 Österreich I – Die Erste Republik Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=