Vielfach Deutsch 4, Leseheft
2 Lesen, Standpunkte erkennen und Stellung nehmen 24 Zwei unterschiedliche Standpunkte erkennen und reflektieren Nehmen zwei Personen unterschiedliche Standpunkte ein, kann das verschiedene Folgen nach sich ziehen. So auch Missverständnisse oder Streit. Deshalb ist es wichtig, den Standpunkt der oder des anderen richtig zu verstehen und gut zu überlegen, wie man selbst dazu steht. Lies die folgende „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ des deutschen Nobelpreisträgers Heinrich Böll (1917–1985). In einem Hafen an einer westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich gekleideter Mann neben seinem Fischerboot und döst. Ein schick angezogener Tourist fotograert das idyllische Bild: blauer Himmel, grüne See mit friedlichen, schneeweißen Wellenkämmen, Boot, rote Fischermütze. Und noch einmal: ein zweites Bild, und da aller guten Dinge drei sind und sicher sicher ist, ein drittes Mal. Das Geräusch weckt den dösenden Fischer, der sich schläfrig aufrichtet … und ein viertes Foto. Es ist eine Verlegenheit entstanden, die der Tourist – der Landessprache mächtig – durch ein Gespräch zu überbrücken versucht. „Sie werden heute einen guten Fang machen.“ Kopfschütteln des Fischers. „Aber man hat mir gesagt, dass das Wetter günstig ist.“ Kopfnicken des Fischers. „Sie werden also nicht ausfahren?“ Kopf- schütteln des Fischers, steigende Nervosität des Touristen. Gewiss liegt ihm das Wohl des ärmlich gekleideten Menschen am Herzen. „Oh? Sie fühlen sich nicht wohl?“ Endlich geht der Fischer von der Zeichensprache zum wahrha gesprochenen Wort über. „Ich fühle mich großartig“, sagt er. „Ich habe mich nie besser gefühlt.“ Er steht auf, reckt sich, als wollte er demonstrieren, wie athletisch er gebaut ist. „Ich fühle mich fantastisch.“ Der Gesichtsausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er kann die Frage nicht mehr unterdrücken, die ihm sozusagen das Herz zu sprengen droht: „Aber warum fahren Sie dann nicht aus?“ Die Antwort kommt prompt und knapp. „Weil ich heute Morgen schon ausgefahren bin.“ „War der Fang gut?“– „Er war so gut, dass ich nicht noch einmal ausfahren brauche, ich habe vier Hummer in meinen Körben ge- habt, fast zwei Dutzend Makrelen gefangen …“ Der Fischer, endlich erwacht, taut jetzt auf und klop dem Touristen auf die Schulter. Dessen besorgter Gesichtsausdruck erscheint ihm als ein Ausdruck zwar unangebrachter, doch rührender Kümmernis. „Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug!“, sagte er, um des Fremden Seele zu erleichtern. 11 die Anekdote: kurze, poin- tierte Geschichte 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 Nur zu Prüfzwecken z z – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=