Vielfach Deutsch 4, Leseheft
2 Lesen, Standpunkte erkennen und Stellung nehmen 25 Ein fün es Foto, der Fremde setzt sich kopfschüttelnd auf den Bootsrand, legt die Kamera aus der Hand, denn er braucht jetzt beide Hände, um seiner Rede Nach- druck zu verleihen. „Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten einmischen“, sagt er, „aber stellen Sie sich einmal vor, Sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes Mal aus und Sie würden drei, vier, fünf, vielleicht sogar zehn Dutzend Makrelen fangen … Stellen Sie sich das mal vor!“ Der Fischer nickt. „Sie würden“, fährt der Tourist fort, „nicht nur heute, sondern morgen, über- morgen, ja, an jedem günstigen Tag zwei-, dreimal, vielleicht viermal ausfahren – wissen Sie, was geschehen würde?“ Der Fischer schüttelt den Kopf. „Sie würden sich in spätestens einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren könnten Sie vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit zwei Booten oder dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen – eines Tages würden Sie zwei Kutter haben, Sie würden …“, die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar Augenblicke die Stimme, „Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, viel- leicht eine Räucherei, später eine Fabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rund- iegen, die Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisung geben, sie könnten die Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant erönen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren – und dann …“ – wieder verschlägt die Begeisterung dem Fremden die Sprache. Kopfschüttelnd, im tiefsten Herzen betrübt, seiner Urlaubsfreude schon fast verlustig, blickt er auf die friedlich hereinrollende Flut, in der die ungefangenen Fische munter springen. „Und dann“, sagt er, aber wieder verschlägt ihm die Erregung die Sprache. Der Fischer klop ihm auf den Rücken wie einem Kind, das sich verschluckt hat. „Was dann?“, fragt er leise. „Dann“, sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, „dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken.“ „Aber das tu ich ja schon jetzt“, sagt der Fischer, „ich sitze beruhigt im Hafen und döse, nur Ihr Besuch hat mich dabei gestört.“ Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von dannen, denn er hatte immer geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, aber es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid. Aus: Heinrich Böll: Erzählungen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994 (bearbeitet). 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 Nur k k zu Prüfzwecken – Eige tum k k des Verlags öbv
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