Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
222 Zugang zur Welt kennengelernt haben. Ganz wie andere frühe Aufklärungsphiloso- phen der Neuzeit stellte Descartes radikal alles in Frage, was überliefert ist oder durch die Sinne vermittelt wird. Denn auch die Sinne könnten uns täuschen. Wir nehmen Dinge anders wahr, als sie sind, nämlich so, wie wir sie wahrnehmen möchten oder wie man uns von klein auf gelehrt hat, sie wahrzunehmen. Erinnerungen taugen auch nicht viel mehr, sie sind immer schon fragmentiert und verändern sich zudem im Lauf der Zeit auch noch. Darauf ist kein Verlass. So sah das nicht nur Descartes, sondern auch sein jüngerer Zeitgenosse Baruch de Spinoza, beide waren der Ansicht, dass allein logisch belegbare Argumente einen Weg zu wahrer, richtiger Erkenntnis bahnen könnten. Vernunft und Verstand genießen aus philosophischer Perspektive von jeher einen höheren Status als die Sinne oder das, was man so lernt. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Leuchtet Ihnen der Satz „Ich denke, also bin ich“ unmittelbar ein? Wenn ja, warum? Falls nein, weshalb nicht? Sammeln Sie Argumente und diskutieren Sie gemeinsam darüber! Wir schließen wohl mit Recht […], dass Physik, Astronomie, Medizin und alle anderen Wissenschaften, die von der Betrachtung der zusammengesetzten Dinge abhängen, zweifelhaft sind. Hingegen enthalten Arithmetik, Geometrie und andere Wissenschaften dieser Art, die von nichts handeln als den einfachsten und im höchsten Maße allgemeinen Dingen, irgendetwas Sicheres und Unbezweifelbares. […] Ob ich nun schlafe oder wache, zwei und drei ergeben verbunden immer fünf, ein Quadrat hat nie mehr als vier Seiten, und es scheint unmöglich, dass derart offenkundige Wahrheiten in den Verdacht der Unrichtigkeit geraten könnten. René Descartes: Meditatio I 12. Descartes bezieht sich hier auf Gewissheiten, die sich aus den Regeln einer Formal- sprache ergeben, in diesem Fall derjenigen der Mathematik. Gelten bestimmte Definitionen von Zahlen und Rechenoperatoren, so führt deren Anwendung zu einem bestimmten Ergebnis. Dieses ist nicht abhängig von politischen Willensakten, persön- lichen Erfahrungen oder Überlieferungen, sondern allein von mathematischen Regeln. Der hohe Status der Mathematik in der Geschichte europäischer Philosophie ent- spricht der schon erwähnten Wertschätzung alles Vernünftigen oder Verständigen. Auf die Unterschiede zwischen Vernunft und Verstand kommen wir noch zu sprechen. Allerdings, räumte Descartes ein, könne es am Ende stimmen, dass der Widerspruch gilt: Ich denke und bin trotzdem nicht. Wie das? Nur, wenn all unsere Logik nichts wert wäre. Dies könnte beispielsweise der Fall sein, wenn ein betrügerischer Gott , ein dieu trompeur , uns aus Bosheit beharrlich täuschen wollte. Die Figur des dieu trompeur war Descartes aus der spätmittelalterlichen Philosophie bekannt, die er am Jesuiten- kolleg in Le Havre kennengelernt hatte. Also schickte sich Descartes an zu beweisen, dass es keinen betrügerischen, sondern nur einen guten Gott gibt, um sein unbestreit- bares Fundament (fundamentum inconcussum) über jeden Zweifel zu erheben. Dabei René Descartes (1596–1650) 1 ausFüHrunG VerTieFunG Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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