Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]

226 Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Wählen Sie in einem philosophischen Begriffswörterbuch einen beliebigen Begriff und schreiben Sie die wesentlichen Definitionsmerkmale zusammen! […] zu einer Erkenntnis (perceptio), auf die ein sicheres und unzweifelhaftes Urteil gestützt werden kann, gehört nicht bloß Klarheit, sondern auch Deutlichkeit. Klar (clara) nenne ich die Erkenntnis, welche dem aufmerkenden Geiste gegenwärtig und offenkundig ist, wie man das klar gesehen nennt, was dem schauenden Auge gegenwärtig ist und dasselbe hinreichend kräftig und offenkundig erregt. Deutlich (distincta) nenne ich aber die Erkenntnis, welche, bei Voraussetzung der Stufe der Klarheit, von allen übrigen so getrennt und unterschieden (seiuncta et praecisa) ist, dass sie gar keine anderen als klare Merkmale in sich enthält. René Descartes: Principia philosophiae I 45. Wenn philosophische Erkenntnis untrennbar mit Begriffsbildung verknüpft ist, sollten aus einer Position wie der von Descartes wohl zuallererst die Begriffe klar und deutlich formuliert sein – doch wie groß kann solche Klarheit überhaupt sein? Ist nicht jedes Wort, jeder Satz, jeder Begriff prinzipiell mehrdeutig? Wie viele andere Wissen- schaften auch verfügt die Philosophie über keine Formalsprache, sie bedient sich des Vokabulars der Alltagssprache, wie kritisch auch immer sie damit verfahren mag. Dieses Vokabular lässt aber immer mehr als eine Deutung zu und kann auch durch Definitionen oder Begriffsbestimmungen niemals vollständig determiniert werden. Insofern kann auch philosophische Begriffsbildung zwar stets um Klarheit bemüht sein, das Ziel, zwischen Autor/in und Leser/in, Sprecher/in und Hörer/in im Einzelnen einen eineindeutigen Konsens über Bedeutungen zu gewinnen, wird aber grundsätz- lich unerreichbar bleiben. Begriffsgeschichte oder historische Semantik, wie sie beispielsweise der Historiker Reinhart Koselleck und andere erarbeitet haben, versucht unter anderem, philosophi- sche Begriffsgeschichte und Wortbedeutungslehre mit allgemeinen sozial- und kulturgeschichtlichen Aspekten in Verbindung zu bringen. Gleichzeitig verfährt sie sprachkritisch und versucht, Begriffe so genau wie möglich zu analysieren. Vor allem trägt sie dem Umstand Rechnung, dass Begriffe, Worte und Satzgebilde zu unter- schiedlichen Zeiten Verschiedenes bedeuten. Auch die Leserschaft sowie deren Vorannahmen und Weltbilder sind jeweils andere. Wenn wir heute die Metaphysik des Aristoteles in Deutsch oder Englisch lesen und dies mit lateinischen Übersetzungen aus dem 14. Jahrhundert vergleichen, so unter- scheiden sich die Texte doch sehr stark, obwohl es sich doch um dasselbe Buch handelt. Wer über Griechischkenntnisse verfügt, auch wenn sie noch so bescheiden sein sollten, kann sich an Vergleiche mit dem Original wagen – und möglicherweise einen weiteren Text finden. Und auch wir haben unterschiedliche Dinge gelernt oder erfahren, und wir erleben die Welt keinesfalls alle gleich. Dennoch bestehen Gemein- samkeiten, die etwa zwischen uns und einem mittelalterlichen Publikum nicht mehr vorhanden sind. 1 ausFüHrunG VerTieFunG Reinhart Koselleck (1923–2006) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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