Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
237 3.2 Philosophie als Ideologiekritik: Vorurteil und Ideologie Bleiben wir noch einen Moment bei Sokrates. Wir haben sein als élenchos (Widerle- gung) , später auch als Elenchik bezeichnetes Verfahren bereits kennengelernt: Laut Platon verwickelte Sokrates Menschen in Gespräche, um ihnen deutlich zu machen, dass es sich bei dem, was sie für sicheres Wissen hielten, um willkürlich angeeignete Meinungen und Vorurteile handelte. Nur ein Wissen, für das auch rationale Begrün- dungen gegeben werden können, verdiente nach Ansicht von Platons Sokrates diese Bezeichnung tatsächlich. Für die nachfolgenden europäischen Philosophietraditionen liegt hierin ein wesentliches Merkmal von Philosophie: im Setzen auf rationale Argumentation anstelle von überlieferten Vorstellungen, Sitten und Gebräuchen. So verstanden ist Philosophie immer auch eine Auseinandersetzung mit Vorurteilen und ein stetes Ankämpfen gegen sie. Der Begriff wird in der Regel zur Bezeichnung von Ansichten oder Meinungen gebraucht, die ohne genaue Prüfung ihrer Richtigkeit geteilt werden. Vorurteile sind durch meist unzulässige Verallgemeinerung gekenn- zeichnet. Häufig gehen Vorurteile deshalb mit Stereotypen und Klischees einher, starren Bildern und Vorstellungen von Individuen oder Gruppen. Diese Vorstellungen werden meist unhinterfragt tradiert und von größeren Personengruppen, oft ganzen Gesellschaften, akzeptiert. Viele Menschen pflegen Vorurteile und Klischees, um sich in einer komplexen Welt leichter zurechtzufinden. Dieses Verfahren ist aber höchst problematisch, weil Vorurteile und vor allem Klischees meist mit einer Abwertung der von ihnen Betroffenen einhergehen. Vor allem das Denken der Aufklärung wandte sich gegen Vorurteilsbildungen aller Art. In seiner Abhandlung „Novum Organum“ beispielsweise setzte sich Francis Bacon kritisch mit „falschen Begriffen“ auseinander, die „im menschlichen Verstand“ bereits „Wurzeln geschlagen“ hätten. Er nannte diese Begriffe Idola (Idole) , wörtlich mit Bild, hier gemeint: Götzenbild, übersetzbar. Genauer nannte Bacon vier solcher Idole, nämlich solche des Stammes ( Idola Tribus; in der menschlichen Gattung selbst gelegen), der Höhle ( Idola Specus; aus der Erziehung entstanden), des Verkehrs ( Idola Fori; sprachlich oder kommunikativ bedingt) und des Theaters ( Idola Theatri; gemeint sind hier dogmatisch verfahrende philosophische Schulen). Die Überlegungen Bacons wurden von anderen Denkern der Aufklärung übernommen und ausgeweitet. Als besonders problematische, weil systematische Ausprägungen von Vorurteilen können Ideologien gelten. Diese spielen, obwohl auch das nicht zwingend ist, haupt- sächlich im Kontext der Politischen Theorie und politischer Diskussionen eine Rolle. Der Begriff politisch wird dabei sehr weit gefasst; er bezieht alles mit ein, was im weitesten Sinn mit der Absicht zusammenhängt, soziale Verhältnisse gestalten zu wollen, und darf keinesfalls auf Parteipolitik oder dergleichen beschränkt werden. Insofern kann von Ideologie auch im Zusammenhang bestimmter religiöser Sichtwei- sen gesprochen werden, wenn diese eine ausschließliche Geltung beanspruchen und zur Bekehrung aller Andersdenkenden aufrufen. Aber auch wissenschaftliche und philosophische Aussagen können ideologisch werden, sobald sie die Form von Dogmen annehmen und einer kritischen Hinterfragung entzogen werden sollen. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Welche Beispiele für gängige Vorurteile fallen Ihnen spontan ein? Diskutieren Sie gemeinsam über Ihre Beispiele! GrundlaGen O Literaturempfehlung: Peter Ustinov: Achtung! Vorurteile (2003). Vorurteil ohne angemessene und ausreichende Sachverhal te gebildete Meinung Francis Bacon (1561–1626) 1 t Eine kurze Einführung Eine kurze Einführung 6 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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