Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
245 Der bildende Philosoph zieht […] mit Lessing das unendliche Streben nach Wahr- heit „der ganzen Wahrheit“ vor. […] Für ihn ist der Gedanke, wir stünden einer „ganzen Wahrheit“ gegenüber, absurd, weil der platonische Wahrheitsbegriff absurd ist, entweder als der Begriff einer Wahrheit über eine Wirklichkeit, die nicht Wirklichkeit-unter-einer-Beschreibung wäre, oder als der Begriff einer Wahrheit über die Wirklichkeit unter einer privilegierten Beschreibung, die alle anderen Beschreibungen unnötig werden ließe, weil sie mit jeder kommensurabel wäre. Richard Rorty: Der Spiegel der Natur, S. 409. Eine Wirklichkeit ist, so der Philosoph Richard Rorty, nur als Wirklichkeit-unter-einer- Beschreibung, mithin als beschriebene Wirklichkeit, zu haben. Wirklichkeit existiert für uns immer nur als sprachlich erfasste Wirklichkeit, weil alles, was wir wahrnehmen oder erleben, von jeher mit sprachlichen Bedeutungen aufgeladen ist oder von uns entsprechend aufgeladen wird. Ein abstrakter Wahrheitsbegriff, der eine außersprach- liche Wirklichkeit abbildet, muss unter dieser Prämisse als absurd anmuten. Wenn Rorty von einem bildenden Philosophen spricht, so ist hier an Bildung gedacht. Philosophinnen/Philosophen sollten sich in Diskussionen mit lebensweltlicher Relevanz auch außerhalb philosophischer Institutionen einbringen. Ein solcher Ansatz wirkt nicht nur Halbbildung und Ignoranz entgegen, er trägt auch der Relevanz von Kommunikation Rechnung. Wo Sprache und Denken in eins gesetzt werden, darf auch der sprachliche Austausch nicht zu kurz kommen, der zwar auch in Form von Selbst- gesprächen erfolgen kann, die jeder/jede Autor/in zwangsläufig führt, aber der in idealer Weise doch immer auch die Interaktion mit anderen zum Ziel hat und zu gestalten sucht. Bildende Philosophinnen/Philosophen sollten immer auch Gesprächs- partner/innen sein. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Können Sie Rortys Vorstellung von einer/einem bildenden Philosophin/Philosophen zustimmen? Diskutieren Sie gemeinsam darüber! 3.7 Kulturelle Dimensionen der Philosophie In diesem Kapitel war viel die Rede von europäischer und auch von nordamerikani- scher Philosophie. Die Absicht dahinter war nicht, Europa und Nordamerika als besonders hervorragende Orte des Philosophierens vorzustellen, sondern vielmehr, eine ebenso bedauerliche wie schwer vermeidbare Einschränkung zu machen. Schwer vermeidbar ist die Einschränkung, weil es sich hier um eine Einführung handelt, in deren Rahmen nur bestimmte Grundlagen philosophischen Denkens aufgezeigt und angerissen werden können. Natürlich sind chinesische, japanische, indische und viele andere Traditionen des Denkens zumindest genauso relevant und interessant wie die europäischen. Wer allerdings in Europa zum vielleicht ersten Mal mit Philosophie konfrontiert wird, sollte zunächst einmal die nächstliegenden Ansätze kennenlernen, die ihr/ihm ja auch auf Schritt und Tritt begegnen. Die Beschäftigung mit außereuro- ausFüHrunG Richard McKay Rorty (1931–2007) VerTieFunG 2 r GrundlaGen Eine kurze Einführung Eine kurze Einführung 6 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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