Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
248 Philosophische Texte lesen Immanuel Kant: Was ist Aufklärung? (Auszug) Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmün- digkeit, wenn die Ursache derselben nicht amMangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen […], dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Men- schen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vor- münder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab. Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündig- keit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar liebgewonnen und ist vorderhand wirklich unfähig, sich seines eigenen Ver- standes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. […] Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit herauszuwickeln und den- noch einen sicheren Gang zu tun. […] Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784, A 481 f. Philosophische und andere Texte Philosophieren hat sehr viel damit zu tun, sich mit Texten auseinanderzusetzen und Texte zu interpretie- ren. Immerhin baut philosophisches Denken auf Überlegungen und Fragestellungen auf, die von früheren Generationen formuliert wurden, antwortet auf Einwände, die dazu gemacht worden sind, setzt sich mit den Argumenten von Zeitgenossinnen/ Zeitgenossen und älteren Autorinnen/Autoren auseinander. Philosophie, wie wir sie kennen, ist untrennbarer Bestandteil einer jahrtausendealten Schriftkultur. Und so ist es von größter Bedeutung, sich kritisch und systematisch mit Texten beschäftigen zu können. Lektüre ist keine Selbstverständlichkeit, weder bei philosophischen oder literarischen noch bei wissen- schaftlichen oder essayistischen Texten, nicht einmal bei Gebrauchstexten. Deshalb müssen wir uns immer wieder grundsätzlich mit der Frage adäquater Text interpretation auseinandersetzen. Das gilt umso mehr bei komplexen, vielschichtigen Texten, wie es philoso- phische Texte nun einmal sind. Sie haben vermutlich schon in anderen Fächern und Zusammenhängen gelernt, wie Sie sich angemessen mit Texten auseinandersetzen können. Weil es für unser Fach so zentral ist, wiederholen wir es hier nochmals. Begriffe wie Textinterpretation oder Hermeneutik bezeichnen durchaus unterschiedliche Verfahren, die auf möglichst konzise und wider 5 10 15 20 25 30 35 40 Methode Nur zu Prüfzwecken – Eigen um des Verlags öbv
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