Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]

263 Ein Kind weiß nicht, daß drei und vier gleich sieben sind, bevor es bis sieben zäh- len kann und Namen wie Idee der Gleichheit gewonnen hat; dann aber, nachdem ihm die genannten Wörter erklärt worden sind, stimmt es diesem Satz sofort zu oder nimmt vielmehr dessen Wahrheit wahr. Aber nun stimmt es weder deshalb bereitwillig zu, weil es sich um eine angeborene Wahrheit handelt, noch fehlte seine Zustimmung deshalb so lange, weil es seine Vernunft noch nicht gebrauchen konnte; vielmehr leuchtet die Wahrheit des Satzes ihm ein, sobald es im Geiste die klaren und deutlichen Ideen, für die jene Namen stehen, fest eingeprägt hat. John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, 1. Buch, Kap. 1, 16, S. 29. Im Gegensatz zu Rationalisten wie Descartes geht Locke davon aus, dass es so etwas wie angeborene Ideen nicht gibt. Wir nehmen Eindrücke auf und verknüpfen sie. Wir lernen zählen und stellen fest, dass wir sieben Streichhölzer zählen können, wenn wir erst drei und dann vier Streichhölzer auf einen Tisch legen. Jede Erkenntnis baut demnach auf simplen Erfahrungen auf, die wir in weiterer Folge verknüpfen. Diese Verknüpfung kann aber durchaus zu seltsamen Ergebnissen führen. So können wir zum Beispiel aus vielen Einzeleindrücken die zusammengesetzte Idee Flügel und die komplexe Idee Pferd gewinnen. Verbinden wir diese beiden Ideen nochmals, so haben wir ein geflügeltes Pferd, den Pegasos der griechischen Mythologie. Haben Sie schon einmal ein geflügeltes Pferd gesehen ? Im Kino oder im Fernsehen? Aber sonst? Nein? Hume würde sagen, dass daraus die Nicht-Existenz geflügelter Pferde folge. Denn als Kriterium für das Vorhandensein von Eindrücken aus der wirklichen Welt hätten wir stets und ausschließlich die persönliche Erfahrung. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Welche Vorstellung vom Lernen liegt der zitierten Textstelle von Locke zugrunde? Bilden Sie Gruppen und diskutieren Sie, ob und inwieweit diese noch zeitgemäß sind! Kennen Sie noch andere Ideen, die nach Art des Pegasos zusammengesetzt sind? Geben Sie Beispiele aus Ihrer eigenen Erfahrungswelt! 2.3 Erkenntnis als Denkakt? Gottfried Wilhelm Leibniz, ein rationalistischer Philosoph, stimmte mit Locke zwar darin überein, dass menschliche Vorstellungen auf sinnlicher Erfahrung beruhten, allerdings wertete er die Bedeutung der verbindenden Instanz weit höher als Locke dies tat. Der Intellekt selbst, so Leibniz, konstituiere sich nicht über die Erfahrung, sondern gehe dieser immer schon voraus. Es sei ein denkendes Subjekt, das die Erfahrungsdaten in einer bestimmten Weise verknüpfe. Nichts , so schreibt er, sei im Intellekt , das nicht zuvor durch die Sinne erfasst worden sei – außer dem Intellekt selbst. Ideengeschichtlich vermittelt Immanuel Kants Ansatz gewissermaßen zwischen den beiden skizzierten Positionen. Kant geht davon aus, dass Erkennen bestimmte Formen AuSFüHrunG VErTiEFunG 3 t 4 GrundlaGEn Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) Wirklichkeit und ihre Erkenntnis Wirklichkeit und ihre Erkenntnis 7 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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