Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
268 nehmer/innen orientieren und Rückschlüsse auf die Bedeutung der unterschiedlichen Lichtsignale anstellen. Wenn Ihre Schlussfolgerungen den Konventionen entsprechen, von denen die Eingeweihten als selbstverständlich ausgehen, haben Sie einen Zugang zu deren Interpretationspraxis gefunden. Durch Übung haben Sie sich, in den Worten Ludwig Wittgensteins, ein Sprachspiel erschlossen und nehmen nun an der Lebens- form Straßenverkehr teil. Diese Lebensform könnte natürlich auch ganz anders gestal- tet sein (insbesondere könnten „Rot“ und „Grün“ in einem anderen kulturellen Umfeld anderes bedeuten). Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Reflektieren Sie Ihre eigene Vorstellung von Sprache! Geben Sie selbst eine Definition des Begriffs! Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir „Spiele“ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: „Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‚Spiele‘“ – son- dern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlich- keiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. […] Und das Ergeb- nis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlich- keiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen I 66. Diese Ähnlichkeiten legen für Wittgenstein das Vorhandensein eines bestimmten Spiels, eben auch eines Sprachspiels, nahe. Das Sprachspiel der Ärztinnen/Ärzte ist ein anderes als etwa jenes der Rechtsanwältinnen/Rechtsanwälte oder der Richterin- nen/Richter, und es lässt sich nicht abschließend mit Hilfe einer Definition auf den Punkt bringen, was es denn spezifisch ausmache. Deshalb auch Wittgensteins Aufforderung, zu schauen und Ähnlichkeiten ausfindig zu machen. Im Ergebnis bleiben die Beobachtbarkeit und vielleicht auch die Beschreibbarkeit einer Praxis oder Lebensform, die durchaus bestimmten (Spiel-)Regeln folgt. Diese Regeln gehen der Praxis jedoch nicht voraus, sondern entwickeln sich aus ihr, wie sie sich auch in ihr verändern (lassen). Unter Sprachspiel im Sinne Wittgensteins können sprachliche Äußerungen gelten, die innerhalb eines bestimmten Kontexts verwendet werden. Diesen Kontext nennt Wittgenstein Lebensform . Damit sollen Praktiken umschrieben werden, die in einer bestimmten Gemeinschaft unhinterfragt gelebt werden. Sie bilden gewissermaßen Muster, an denen sich die Angehörigen der Gemeinschaft in ihrem Verhalten orientie- ren. So kann der Beruf Ärztin/Arzt eine Lebensform darstellen, die bestimmte Verhal- tensweisen umfasst: das Tragen einer bestimmten Kleidung, das Mitführen von als typisch empfundene Arbeitsgeräten wie Stethoskopen oder Arzttaschen, eine ausgeprägte, als berufstypisch empfundene Gestik und Mimik sowie vor allem Sprech- und Schreibweise (Verwendung lateinischer und griechischer Begriffe und Satzfrag- mente in der beruflichen Alltagssprache). 1 AuSFüHrunG Ludwig Wittgenstein (1889–1951) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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