Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
277 hält, bezeichnen wir ihn/sie als Lügner/in. Abgesehen von der moralischen Kompo- nente, die dabei mitschwingt, zielen wir dabei auch noch auf die Einstellung ab, mit der jemand spricht. Herr A sagt zu seiner Frau, er sei am vorangegangenen Abend berufsbedingt in Salzburg gewesen, während er doch in Baden mit Freunden im Casino gesessen hat. Nun hat er einerseits den Ort seines Aufenthalts zu einer bestimmten Zeit unrichtig bezeichnet, dies aber auch ganz bewusst in irreführender Absicht getan. Der Satz „Ich war gestern Abend in Salzburg“ enthält weder einen Widerspruch noch weist er Bezeichnungen auf, die an sich schon als falsch bzw. unwahr oder irrig erkennbar wären. Es bedarf also weiterer Zusatzinformationen, und damit auch weiterer sprachlicher Akte, um diesen Umstand aufzuklären. Dafür, dass gelogen wurde, können allein in Bezug auf den genannten Satz genau genommen weder korrespondenz- noch kohärenztheoretisch Kriterien angegeben werden. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Lesen Sie die zitierte Textpassage und geben Sie die Überlegungen Kants mit eigenen Worten wieder! Der Begriff Wahrheit ist stark emotional und auch moralisch bzw. ethisch aufgeladen. Sammeln Sie mit Ihrer/Ihrem Sitznachbarin/Sitznachbarn Assoziationen dazu und beziehen Sie Beispiele aus Ihrer Alltagswelt ein. Bilden Sie Gruppen und diskutieren Sie folgende These: Korrespondenztheoretische Modelle setzen eine Wahrheit voraus, die im Grunde erst bewiesen werden müsste. Finden Sie begründete Argumente dafür und dagegen! 3.3 Konsens Kann man sich vielleicht einfach darauf einigen, dass etwas wahr sei? Zum Beispiel könnten doch alle Mitglieder einer Forschungsgemeinschaft, etwa alle Anglistinnen/ Anglisten, darüber abstimmen, ob sie etwas für wahr halten wollen oder nicht. Zunächst: Wer eine solche Forderung ernsthaft erhebt, verabschiedet sich definitiv von der Vorstellung, dass etwas wie Wahrheit überhaupt feststellbar ist. Wenn man sich auf etwas einigt, ist dies ja letzten Endes das Ergebnis einer Willensbildung und nicht Ausdruck einer Erkenntnis. Die Erkenntnis kann höchstens darin liegen, dass man auf irgendeiner Grundlage (weiter-)arbeiten muss, nicht aber darin, dass man nun etwas Wahres über eine Sache oder einen Sachzusammenhang weiß. Abgesehen davon: Es wird schwierig sein, alle Anglistinnen/Anglisten der ganzen Welt zu Abstimmungen zusammenzubringen oder diese Abstimmungen (etwa online) ohne Manipulationen über die Bühne zu bringen. So simpel stellen sich Vertreter/innen von Konsenstheorien der Wahrheit die Sache allerdings auch nicht vor. Jürgen Habermas etwa entwickelte die Überlegung, dass Wahrheit einen Geltungsanspruch darstelle, der diskursiv eingelöst werden könne. Es geht dabei um einen Anspruch im Sinne eines Rechtsanspruchs: Etwas wird als rechtmäßig eingefordert. Dieser Anspruch zielt auf Geltung einer Behauptung, also auf deren Gültigkeit. Sehr vereinfacht könnte man sagen, es geht um eine Behauptung, die den Anspruch erhebt, richtig zu sein. Mit dem Erheben des Anspruches ist es aber nicht getan, er muss auch diskursiv einlösbar sein. Damit sind rationale Diskurse gemeint, also solche, die auf vernünftiger Basis úú Kapitel 10 2 3 4 t GrundlaGEn Jürgen Habermas (geb. 1929) Wirklichkeit und ihre Erkenntnis Wirklichkeit und ihre Erkenntnis 7 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=