Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
278 vonstattengehen, das heißt nicht durch Emotionen oder persönliche Interessen eingefärbt sind, und die zudem allen Beteiligten gleichermaßen kommunikativen Austausch ermöglichen. Die Wahrheitsfindung auf dieser Basis soll also durch herrschaftsfreies Gespräch und den vernünftigen Austausch von Argumenten erfol- gen. Am Ende einigt man sich dann, findet einen Konsens, anhand der Überzeugungs- kraft von Argumenten. Im wissenschaftlichen Kontext geschieht derlei in der Tat häufig, allerdings weit weniger herrschaftsfrei, als Habermas es fordert, und auch selten so einförmig, dass nicht andere vertretbare Meinungen bestehen bleiben könnten. Wenn sich also auch nicht alle Anglistinnen/Anglisten per Abstimmung auf ein Ergebnis einigen können, so bilden sich doch über internationale Tagungen, Publikationen und vorherrschende Meinungen an Universitäten bestimmte konsensual geteilte Überzeugungen heraus, die nicht weiter angezweifelt werden, auch wenn es durchaus Gründe dafür geben kann. Ein Beispiel im Bereich der Anglistik wäre die konsensual geteilte Überzeugung, dass der Schauspieler William Shakespeare aus Stratford-upon-Avon die unter seinem Namen veröffentlichten Theaterstücke und Gedichte auch tatsächlich selbst verfasst hat – und nicht etwa Edward de Vere, der 17. Earl of Oxford. Diese Sicht der Dinge gilt unter Anglistinnen/Anglisten ganz überwiegend als wahr , worüber man sich diskursiv weitgehend geeinigt hat. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Diskutieren Sie darüber, ob Wahrheit durch Diskussion ermittelt oder festgelegt werden kann! Welche Probleme könnten Sich daraus ergeben? Begründen Sie Ihre Überlegungen! Wahrheitsfragen stellen sich […] im Hinblick […] auf Tatsachen, die erfahrungs- freien und handlungsentlasteten Diskursen zugeordnet sind. Darüber, ob Sachver- halte der Fall oder nicht der Fall sind, entscheidet nicht die Evidenz von Erfahrun- gen, sondern der Gang der Argumentationen. Die Idee der Wahrheit läßt sich nur mit Bezugnahmen auf die diskursive Einlösung von Geltungsansprüchen entfalten. Jürgen Habermas: Wahrheitstheorien (1973), S. 218. Für Habermas ist Wahrheit nicht von bestimmten argumentativen Verfahren trennbar. Sie entsteht geradezu im Zuge des Austausches von Argumenten. Die Sprache fängt keine außersprachliche Wahrheit ein, sondern sie erzeugt sie überhaupt erst. Ein konsenstheoretischer Wahrheitsfindungsprozess ist auch ein Wahrheitserfin- dungsprozess. Vielleicht ist er das geradezu. Auf den ersten Blick mag dies nach Willkür aussehen. Anstatt gefunden zu werden, wird Wahrheit herbeigeredet. Doch ist in letzter Konsequenz etwas anderes überhaupt möglich? Die Wahrheit des Konsenses ist ja keine gewaltsam dekretierte, verordnete. Vielmehr wird sie zwischen prinzipiell gleichberechtigten Diskursteilnehmerinnen und -teilnehmern ausdiskutiert, unter Heranziehung rationaler Argumente. Das sind sehr ideale Bedingungen, die in Reinform nirgendwo verwirklicht sind. Doch unter den sprachlichen und erkennt- 1 AuSFüHrunG VErTiEFunG Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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