Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]

295 dann gewesen, wäre doch alles sinnlos“. Bei näherer Betrachtung ist genau das Gegenteil der Fall. Wir konnten ja bereits feststellen, dass Sinn oder Bedeutung etwas ist, das in der Sprache und in sprachlichem Handeln entsteht. In beiden Fällen geht es darum, Zeichen einen bestimmten Inhalt zuzuschreiben. Beides sind Worte, die in der Sprache und durch die Sprache existieren und die wir in unterschiedlicher Weise aufladen. Wir geben Dingen durch unsere Vorstellungen und unser Sprechen Sinn und Bedeutung. Würden wir das auch tun, wenn wir wüssten, dass nichts einmalig, flüchtig, vorüber- gehend ist, sondern wir ohnehin alles immer wieder erleben und erfahren würden, ohne jede zeitliche Begrenzung? Wenn wir wüssten, dass es nichts geben kann, was wir nicht auch erleben und erfahren können, weil wir im Wortsinn alle Zeit der Welt haben? Gäbe es dann noch irgendetwas Besonderes oder wäre dann nicht vielmehr alles irgendwie gleich wichtig und folglich einerlei? Auf der Ebene von Gefühlen liegt die Antwort nahe. So ließ sich feststellen, dass Erinnerungen umso stärker sind, je intensiver die emotionalen Eindrücke waren, die sich mit den erinnerten Erlebnissen verbanden. Mit Sinnzusammenhängen ist es wohl nicht viel anders. Weil wir nicht ewig auf der Welt sind und das irgendwie auch wissen, machen wir uns überhaupt die Mühe, Dinge zu bezeichnen, ihnen Sinn und Bedeutung zuzuschreiben. Je wichtiger uns etwas ist, umso mehr bemühen wir uns, es zu begreifen, uns einen Begriff davon zu machen , umso mehr gehen wir ins Detail. Die Vorstellung, das Bild, das wir von einer solchen Sache haben möchten, kann nicht klar und scharf genug sein. Wir versuchen es zu begreifen, zu erfassen, so weit wie möglich zu verstehen. Was uns hingegen nicht wichtig ist, was uns nichts bedeutet (hier im Sinne von: was keinen Wert für uns hat), kann ruhig dubios und verschwommen bleiben. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Bilden Sie Gruppen und diskutieren Sie die These, dass der Tod dem Leben überhaupt erst Sinn verleiht! Der Tod (oder die Anspielung auf ihn) macht die Menschen wertvoll und anrüh- rend. Das Bewegende an ihnen ist ihr gespenstischer Zustand; jede Handlung, die sie ausführen, kann die letzte sein; es gibt kein Gesicht, das nicht bald zerfließen wird wie das Gesicht in einem Traum. Alles hat bei den Sterblichen den Wert des Unwiederbringlichen und des Gefährdeten. Bei den Unsterblichen dagegen ist jede Handlung (und jeder Gedanke) das Echo von anderen, die ihr in der Vergangen- heit ohne ersichtlichen Grund vorangingen, oder zuverlässige Verheißung anderer, die sie in der Zukunft bis zum Taumel wiederholen werden. Es gibt kein Ding, das nicht gleichsam verirrt ist zwischen unermüdlichen Spiegeln. Nichts kann nur ein einziges Mal geschehen, nichts ist auf kostbare Weise gebrechlich. Jorge Luis Borges: Der Unsterbliche (1949; dt. 1995), S. 24. Der Schriftsteller Jorge Luis Borges beschäftigt sich in seinen Erzählungen fast immer mit philosophischen Fragestellungen. In der Erzählung, auf die hier Bezug genommen wird, entdeckt ein Reisender eine Kolonie Unsterblicher, für die das Dasein alles Konkrete und damit jeden Inhalt, jeden Sinn und jede Bedeutung verloren hat. úú Kapitel 7.2.5 úú Kapitel 3.2 1 t AuSFüHrunG Jorge Luis Borges (1899–1986) Mensch-Sein 1 Mensch-Sein 1 8 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum d s Verlags öbv

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