Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]

297 noch vor Umsetzung der Pläne zu sterben. Würde man diese Eventualität jedoch ständig zur Voraussetzung des eigenen Handelns machen, käme dieses Handeln ziemlich rasch zum Erliegen. Wir tun also wieder einmal so, als ob wir noch eine ganze Weile leben würden, zumindest solange wir nicht schwer krank werden oder ein hohes Alter erreichen. Menschen laden alles, was sie erleben und wahrnehmen mit Sinn und Bedeutung auf, eben weil es so bedroht und einzigartig zu sein scheint. Insofern entwickeln sie auch Vorstellungen darüber, wie ihr Leben aussehen soll. Sie erzählen es sich gewisserma- ßen selbst, wählen jene Teile der Vergangenheit aus, die in das Konzept ihrer Lebens- geschichte passen, und lassen andere beiseite, vergessen oder verdrängen sie sogar. Aber sie greifen zugleich auch gedanklich in die Zukunft vor, nehmen sie in Gedanken vorweg und spinnen ihre Lebensgeschichte fort. Es kommt durchaus auch zu Ände- rungen in diesem Skript , aber in jedem Fall ist der Vorgriff eine Fortsetzung dessen, was wir als unser bisheriges Leben begreifen. Das gilt selbst dann, wenn die Fort- setzung unter dem Motto steht: „Du musst dein Leben ändern!“ Denn immerhin wird stets etwas Bestimmtes geändert. Wie wir uns unsere Lebensgeschichten erzählen, hängt immer auch mit kulturellen Mustern und Vorgaben zusammen. Was uns persönlich erstrebenswert erscheint, gilt sehr oft auch in der Gesellschaft, in der wir aufwachsen und leben, als erstrebens- wert. Es kann sich aber auch genau dagegen richten. Völlig frei erfunden wird in diesem Zusammenhang relativ wenig. In modernen Gesellschaften besteht eine mehr oder minder große Vielfalt an Vorstellungen darüber, was erstrebenswert sein kann. Darunter können auch Ansätze fallen, die sich grundsätzlich widersprechen. Men- schen haben so auch größere Entscheidungsspielräume, selbst wenn die entsprechen- den Entscheidungen oft eher unbewusst als bewusst getroffen werden. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Welche kulturellen Muster und Rahmenbedingungen halten Sie in Ihrer eigenen Lebensgeschichte für wichtig? Notieren Sie Stichworte, bilden Sie Gruppen und diskutieren Sie darüber! Man eigne sich die eigene Vergangenheit an, indemman daraus einen Sinn mache. Das Verstehen, das durch das erzählerische Erinnern erreicht werde, schrieb Les- kov weiter, bringe das entscheidende Gefühl der Zugehörigkeit zu einem selbst hervor. Und entsprechend interpretierte er den Geschmack der Fremdheit, den ein vergangenes Erleben an sich haben konnte, als eine Lücke im Verstehen. Durch das erzählerische Erinnern, das war das etwas sehr plakative Resümee, bekomme eine Person allererst eine seelische Identität über die Zeit hinweg. Also: ohne Sprache keine seelische Identität. Pascal Mercier: Perlmanns Schweigen (4. Aufl. 1997), S. 134. Diese Thesen lässt Peter Bieri, der Autor von „Perlmanns Schweigen“, besagten Leskov, einen Sprachwissenschafter, aufstellen. Sie bringen recht anschaulich auf den Punkt, dass Lebensgeschichte immer auf einer Auswahl, auf Aussparungen und auf einer Struktur gründet, nämlich auf einer Erzählstruktur. úú Kapitel 4 1 r AuSFüHrunG Mensch-Sein 1 Mensch-Sein 1 8 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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