Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
298 Das klassische Schema einer Erzählung besteht aus einer Einführung, einem Hauptteil mit mehr oder minder spannungsgeladener Steigerung, die zu einem Höhepunkt führt, gefolgt von Spannungsabfall und Schluss. Dass kein menschliches Leben an sich so verläuft, ist klar, dass wir es uns so erzählen, weil wir ihm auf diese Weise Sinn und Bedeutung verleihen, ist jedoch ebenfalls offensichtlich. Betrachten Sie nur einen herkömmlichen Lebenslauf, wie er für Bewerbungen angefertigt wird, oder ein Memoirenbuch. Allein der Schluss bleibt offen, er wird aber unausgesprochen mitgedacht, und auch die Höhepunkte und Spannungslinien können sich immer wieder ändern. Nur sehr selten ändert sich die ganze story , doch wenn, wird sie in aller Regel nur durch eine andere, nicht durch etwas ganz Anderes, ersetzt. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Geben Sie den oben zitierten Auszug aus „Perlmanns Schweigen“ mit eigenen Worten wieder! Lesen Sie nochmals den Abschnitt 2.6 in Kapitel 6 zum Thema Bedeutung . Bilden Sie Gruppen und diskutieren Sie mit dem so vertieften Hintergrundwissen die These, dass ein Zusammenhang zwischen Bedeutungsstiftung und der Konstruktion von Lebens geschichten besteht! Begründen Sie Ihre jeweiligen Positionen! 1.5 die Sterblichkeit ertragen? Zu den großen Linien kollektiver Sinnstiftungsmodelle zählte zumindest lange Zeit das Bemühen, den Tod des Individuums zu überwinden. Eine ganze Reihe von Religionen war und ist bestrebt, ihren Anhängerinnen/Anhängern ein individuelles Weiterleben nach der Zerstörung des Körpers glaubhaft zu machen. Andere, mehr an der physischen Welt orientierte Ansätze behaupteten eine stetige Entwicklung der Spezies Mensch zu Höherem und Besserem. Im einen Fall bewegt man sich im Feld vieler Religionen, im anderen Fall im Bereich klassischer Geschichtsphilosophie. Eher individuelle Möglichkeiten, der Endlichkeit auf gewisse Weise zu entgehen, bietet die Kunst. Ein spezifisch philosophischer Weg, mit dem Tod umzugehen, besteht darin, zu akzeptieren, dass er irgendwann einmal kommt, sowohl der eigene als auch jener der anderen. Das ist nicht leicht. Vor allem kann sich ein solches Akzeptieren nicht auf die rein kognitive Sphäre beschränken. Dies umso mehr, als wir ja immer sagen könnten, dass wir nicht mit absoluter Sicherheit wissen, ob jeder Mensch wirklich sterblich ist, bloß weil Erfahrung und biologische Konstitution des menschlichen Körpers alles andere unwahrscheinlich machen. Wir können auch sagen, ein Teil unseres Ichs, Selbsts oder Wesens sei unsterblich. Das ist eine Frage tiefgehender Überzeugungen, die gemeinhin als Glaube bezeichnet werden, sei er nun religiös oder anders fundiert. Wir können aber auch konstatieren, dass unser Körper mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sterblich ist und dass wir nicht wissen, ob es sich mit irgendetwas anderem an uns anders verhält. Insofern könnte es weise sein, vorderhand einmal von unserer eigenen Endlichkeit und der aller anderen auszugehen, ohne darüber in Verzweiflung zu verfallen und ohne uns an scheinbare Tröstungen klammern zu müssen, die hochgradig spekulativ sind. Dies muss jedoch, soll es funktionieren, VerTieFunG 2 3 t GrundlaGen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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