Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
308 beweisen, dass man ein Wesen denken kann, über das hinaus nichts Größeres oder Besseres gedacht werden könne. Könne man ein solches Wesen denken, müsse es auch existieren, weil es besser sei zu existieren als nicht zu existieren. Das Gegenteil anzunehmen würde zu einem Selbstwiderspruch führen. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Diskutieren Sie gemeinsam die Frage, ob die Existenz eines göttlichen Wesens bewiesen werden kann und welche Beweismöglichkeiten sich dazu vorstellen lassen! Häufige, von Gotteseifer eingegebene Berichte bedeutender und vertrauenswürdi- ger Personen haben uns zur Kenntnis gebracht, daß einige Lehrer der freien Künste zu Paris die Grenzen ihrer eigenen Fakultät überschreiten und es wagen, die offen- sichtlichen und verabscheuungswürdigen Irrlehren oder vielmehr Eitelkeiten und falschen Hirngespinste, die in der Rolle beziehungsweise in den Blättern enthalten sind, die diesem Schreiben beigefügt sind, als an der Universität behandlungswür- dige Probleme abzuhandeln und zu disputieren. Sie sagen nämlich, diese Irrlehren seien wahr im Sinne der Philosophie, aber nicht des christlichen Glaubens, als gebe es zwei gegensätzliche Wahrheiten und als stehe gegen die Wahrheit der Heiligen Schrift die Wahrheit in den Schriften der gottverworfenen Heiden […]. Damit also nicht die unvorsichtige Redeweise die Einfältigen in Irrtum stürzt, verbieten wir streng, nachdem wir den Rat von Theologieprofessoren wie von anderen klugen Männern eingeholt haben, daß dies oder ähnliches geschehe. Étienne Tempier, Bischof von Paris (1277; dt. 1989), S. 92. Im Jahr 1277 verurteilte der Pariser Bischof 219 Thesen, die auf aristotelische Philoso- phie zurückgingen und (angeblich) von Angehörigen der Artistenfakultät an der Pariser Universität vertreten worden waren. Tempier betont in seinem Schreiben sehr heftig die Vorrangstellung der Theologie gegenüber der Philosophie. Es ist unschwer zu erkennen, dass Anselms oben geschilderte Beweisführung von Wertungen ausgeht, die er voraussetzt und nicht beweist. Vor allem mutet der Gedankensprung vom Gedacht-Werden-Können zum Existent-Sein willkürlich an. Dies hat auch schon ein Zeitgenosse Anselms, der Mönch Gaunilo von Marmoutiers, angemerkt. Eine Insel, die ich mir vorstellen kann, ist etwas anderes als eine Insel, die sich vor meiner Nase im Meer befindet. Der Unterschied wird unmittelbar einleuch- tend, wenn ich mich gerade an die Planke eines untergehenden Schiffs klammere. Später wird Kant gegen Descartes, der aus ganz anderen Gründen einen ähnlichen Gottesbeweis wie Anselm versucht hat, Ähnliches einwenden: Hundert Taler, die sich in meiner Tasche befinden, sind etwas anderes als hundert Taler, die ich mir vorstelle. Sein , so Kant, ist kein reales Prädikat , also nicht etwas, das man dem Begriff einer Sache einfach hinzufügen könne. Es funktioniert nicht ohne weiteres, sich etwas auszudenken und dann zu sagen, „und außerdem gibt es das auch so“. Ob etwas tatsächlich sei oder nicht, könne demnach nicht aus dem Begriff der Sache selbst erschlossen werden, sondern nur aus Erfahrung gewonnen werden. 1 t AuSFüHrunG Artistenfakultät im Mittelalter Orte des universitären Grundstudi ums, in dessen Rahmen Philosophie eine wichtige Rolle spielte. Nach dem Grundstudium konnte man im Mittelalter Theologie, Recht oder Medizin studieren. VerTieFunG Prädikat von lat. praedicare , „öffentlich ausrufen, verkünden“; das, was von einem Gegenstand oder Sachverhalt ausgesagt wird úú Kapitel 7.2 Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv
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