Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]

314 Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermoch- ten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Hori- zont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter gewor- den? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts vom Lärm der Todten- gräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwe- sung – auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (2. Ausg. 1887), 3. Buch, S. 125 (1988, S. 480 f.). Der Tod Gottes wird in Nietzsches „Die fröhliche Wissenschaft“ vom tollen Menschen verkündet, in heutiger Sprache also von einem Geisteskranken. Dieser ist sich des dramatischen Geschehens sehr deutlich bewusst, denn Gott ist aus seiner Sicht nicht einfach gestorben, sondern von den Menschen zu Tode gebracht worden. Der Tod Gottes steht hier für einen gravierenden Wandel des Weltbildes, der nicht nur für eine philosophische Minderheit, sondern für viele Menschen relevant wird: Sie beginnen, sich die Welt ohne Rückgriff auf den einen Gott oder viele Gottheiten zu erklären. Doch sind sie, so scheint der tolle Mensch zu fragen, diesem Unternehmen auch gewachsen? Auch Existentialisten wie Jean-Paul Sartre betonten das Moment der menschlichen Freiheit, die dem Menschen zugleich die Verantwortung für sein Handeln aufbürdet. Wer sich nicht mehr auf Gott oder Schicksal berufen kann, ist für sein Tun selber haftbar. Feministische Theoretikerinnen wie Gerda Lerner wiesen zudem auf die enge Verflechtung zwischen monotheistischen Religionen und der Entstehung des Gesell- schaftssystems Patriarchat hin, das vor allem durch die Unterdrückung und Entrech- tung von Frauen gekennzeichnet ist: Die Vorstellungen vom einen Gott sind in allen drei monotheistischen Religionen hauptsächlich männlich besetzt. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Beschreiben Sie, mit welchen sprachlichen Bildern der tolle Mensch den Tod Gottes darstellt! Vergleichen Sie das, was Sie in diesem Unterkapitel über Religion erfahren haben, mit Ihrem eigenen Verhältnis zu diesem Thema! Diskutieren Sie Ihre Überlegungen mit Ihrer/Ihrem Sitznachbarin/Sitznachbarn! AuSFüHrunG Friedrich Nietzsche (1844–1900) VerTieFunG 3 4 r Nur zu Prü zwecken – Eigentum des Verlags öbv

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