Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]

353 terin die Politik Großbritanniens mehr als ein Jahrzehnt lang und sehr nachhaltig prägte, behauptete etwa, derlei gäbe es gar nicht. „Who is society?“, fragte sie in einem Interview, „There is no such thing!“ Das ist gewiss eine polemische Aussage einer wenig moderaten und kaum kompromissfreundlichen Politikerin. Allerdings stellt sie scheinbar Selbstverständliches infrage, und das ist, ob zu Recht oder zu Unrecht, fast schon wieder ein philosophischer Ansatz. Viele politische Theorien der Aufklärung wollten politische Herrschaft aus einem Vertrag erklären, den die Mitglieder einer Gesellschaft irgendwann geschlossen hätten oder zumindest hätten schließen können. Ausgangspunkt ist ein mehr oder weniger fiktiver Naturzustand, also ein Stadium der Menschheit, in dem es keine Gesetze und keine Herrschaft gab. Thomas Hobbes etwa meinte, Menschen würden sich einem einzigen Souverän unterwerfen, was sie zwar ihre Freiheit kosten, ihnen aber gleichzeitig Sicherheit und Frieden bescheren würde. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem Unterwerfungs- oder Begünstigungsvertrag . Hobbes entwickelte diese Überlegungen vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit blutigen Kriegen in Europa, vor allem mit dem Englischen Bürgerkrieg zwischen 1642 und 1649. Der Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Rousseau hingegen entwickelte ein Modell, in dem die Menschen einen Gemeinwillen (volonté generale) bildeten und aufgrund dessen einen Gesellschaftsvertrag schließen würden, dem sich alle freiwillig unterordneten. Sie ordnen sich also nicht einem Souverän, sondern dem Gemeinwil- len unter. Innerhalb der so geschaffenen Gesellschaft würde dann auch alles einstim- mig entschieden. Rousseau beschreibt damit keine bestehende Gesellschaftsordnung, sondern versucht eine neue zu begründen. Menschen sind jedoch sehr komplexe Wesen mit vielfältigen Strebungen und Interes- sen. Müsste nun für alle politischen Entscheidungen stets ein gemeinsamer Wille gebildet werden, kann dies nur bedeuten, dass alle, die anderer Meinung sind, unter Druck gesetzt oder gar mit Gewalt zu etwas gezwungen werden, das sie eigentlich gar nicht wollen. Rousseaus Menschenbild eines vollständigen Aufgehens von Individuen in einer großen Gemeinschaft entspricht nicht der Art, wie Menschen miteinander leben. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Fassen Sie mit eigenen Worten zusammen, worin die Unterschiede zwischen den Vertragstheorien Hobbes’ und Rousseaus bestehen! Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) 1 Vertragstheorie hypothetische Konstruktion zur Klärung der Frage, worauf politische Macht gründet oder gründen soll. Gedankenexperimente dieser Art kommen in Europa im 17. Jahrhundert auf. Dabei wird nicht, wie im Mittelalter, von der Vorstellung ausgegangen, dass Herrscher von Gottes Gnaden regieren. Vielmehr sollen sie oder ihre Vorgänger irgendwann einmal von anderen Menschen zu ihrer Funktion ermächtigt worden sein, und zwar in einer weit entfernten Vergangenheit. Davor hätten sich die Menschen in einem unpolitischen Naturzustand befunden. Nach einigen Vertragstheoretikern kann Herrschern diese Macht auch wieder entzogen werden. Mensch-Sein 2 Mensch-Sein 2 9 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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