Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
361 Selbstverständlich kommt es immer wieder zu gesellschaftlichen oder politischen Kollisionen; das ist schon deshalb unvermeidlich, weil positive Wertvorstellungen miteinander in Widerstreit geraten können. Die Kollisionen können […] aber ein- gedämmt werden, indem man ein prekäres Gleichgewicht anstrebt und bewahrt, das ständig in Gefahr ist und ständig neu hergestellt werden muss – das allein […] ist die Voraussetzung einer verträglichen Gesellschaft und eines moralisch annehmbaren Verhaltens. […] Vielleicht werden Sie sagen: als Lösung ein bisschen langweilig! […] Ein großer amerikanischer Philosoph unserer Zeit hat einmal gesagt: „Es gibt a priori keinen Grund für die Annahme, dass die Wahrheit, wenn man sie einmal entdeckt hat, notwendigerweise interessant ist.“ Vielleicht genügt es, dass es die Wahrheit ist oder auch nur eine Annäherung an sie […]. Isaiah Berlin: Das krumme Holz der Humanität (2. Aufl. 1992), S. 36. Wenn der Ideenhistoriker und Philosoph Isaiah Berlin hier von positiven Wertvorstel- lungen spricht, so wird positiv nicht als Gegenbegriff zu negativ verwendet, sondern meint das, was irgendwo gesetzt, festgelegt, festgeschrieben ist. Grundlegende Konflikte zwischen unterschiedlichen Wertvorstellungen können aber nicht abschlie- ßend gelöst werden, weil es die eine Wahrheit eben nicht gibt. Deshalb muss ein verträgliches Miteinander ge- und versucht werden. Dessen zentrale Voraussetzung ist die wechselseitige Akzeptanz von Vielfalt und unterschiedlichen Formen der Weltwahrnehmung und Lebensgestaltung. Der Mensch, den Karl Marx vor Augen hatte, ist der arbeitende Mensch, vor allem der manuell arbeitende, der aber gezwungen ist, wie ein Sklave seine Arbeitskraft anderen zur Verfügung zu stellen. Sollte die Entfremdung von der eigenen Arbeit aufgehoben sein, würde eine glückliche klassenlose Gesellschaft entstehen, in der alle nach ihren Möglichkeiten arbeiten und nach ihren Bedürfnissen entlohnt würden. Damit ist zwar eine wichtige Beobachtung gerade der Zeit um 1850 ausgesprochen, jedoch eben nur eine Facette menschlicher Existenz. Das Scheitern des real existie- renden Sozialismus hat nicht nur mit der Korrumpiertheit seiner Repräsentantinnen/ Repräsentanten zu tun. Nationalistische oder völkische Positionen wiederum gingen und gehen von einem biologistischen Menschenbild aus. Sie meinen, wie oder was ein Mensch sei, hänge davon ab, wo er geboren sei und von wem er abstamme (Blut-und-Boden-Ideologie) . Diese reduktionistischen und schon an sich fragwürdigen Ideen wurden zu Bestandteilen faschistischer Ideologien und insbesondere jener des Nationalsozialismus. In gemäßigterer Form wurden sie auch später wieder aufgegrif- fen, haben dabei allerdings nichts von ihrer Gefährlichkeit verloren. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Geben Sie mit eigenen Worten wieder, welche Haltung der Philosoph Berlin dem Widerstreit von Wertvorstellungen gegenüber einnimmt! Extreme politische Sichtweisen sind stets problematisch, vor allem wenn versucht wird, sie umzusetzen. Doch was genau ist überhaupt extrem ? Bilden Sie Gruppen und diskutieren Sie darüber und über die Frage, wie politischen Extremen angemessen begegnet werden könnte! AuSfüHrunG VErTiEfunG 3 4 r Isaiah Berlin (1909–1997) Mensch-Sein 2 Mensch-Sein 2 9 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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