Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]

363 Aus einer semiotischen Perspektive, wie Geertz sie vertritt, ist Kultur gekoppelt an das, was Menschen in der Tat beständig und ganz automatisch tun, nämlich nach irgendeiner Bedeutung zu suchen. Das Bedeutungsgewebe, das auf diese Weise gesponnen wird, wäre dann Kultur, mehr ein Prozess als ein Ergebnis, nichts, das feststeht, sondern etwas, das ständig im Fluss ist. Der Philosoph Jacques Derrida hat darauf hingewiesen, dass die traditionelle Gleich- setzung von lógos mit dem gesprochenen Wort unrichtig sei. Seit Aristoteles war man in der europäischen Philosophie weitgehend davon ausgegangen, dass die gespro- chene Sprache ursprünglicher sei als die geschriebene. Wenn wir sprechen, so nahm man an, würden wir uns spontan und direkt ausdrücken. Die gesprochene Sprache sei sich selbst gegenwärtig. Aber die Bezugsrahmen einer Sprache, Symbole und Ver- weise zwischen ihnen, die Grenzen und Möglichkeiten von Bedeutungen, wohnen viel stärker der geschriebenen Sprache inne. Wenn sich jemand mündlich hervorragend ausdrückt, sagen wir, sie oder er spreche wie gedruckt. Wenn wir Schrift weit fassen, verweist der Begriff auf jede Art Zeichensystem. Und es sind immer Zeichensysteme, die unsere Art zu sprechen ausmachen und sogar hervorbringen, nicht die spontane Lautäußerung. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Geben Sie mit eigenen Worten wieder, wie Geertz das Verhältnis von Mensch und Kultur auffasst! Führen Sie gemeinsam eine ProundContraDiskussion über Derridas These vom Vorrang der geschriebenen vor der gesprochenen Sprache! Begründen Sie Ihre jeweiligen Standpunkte! 4.2 Mensch als Teil der Natur Zu den drei großen Kränkungen der Menschheit gehört nach Sigmund Freud die Feststellung Charles Darwins, dass auch der Mensch aus dem Tierreich hervorgegan- gen sei. Das Leben auf der Erde und in weiterer Folge sämtliche Lebensformen, so Darwin, sei über langsame Entwicklungen entstanden, die sich in Zeiträumen von Milliarden Jahren vollzogen hätten (Evolutionstheorie) . Die Spezies Mensch teile ihre Vorfahren mit anderen Primaten. Heute wissen wir, dass der Homo sapiens, also unsere Spezies, nicht einmal die einzige menschliche Lebensform (Hominidenform) war, die diesen Planeten bevölkert hat. Auch wissen wir, dass das menschliche Genom (Erbgut) mit jenem von Schimpansen zwischen 93 und 99 Prozent übereinstimmt (wie immer gibt es Unterschiede im Detail). Was die genetischen Anlagen betrifft, besteht also kaum ein nennenswerter Unterschied zwischen Menschen und einigen (anderen) Primaten. Was lehrt uns das? Zumindest so viel, dass es um die scharfe Trennlinie zwischen Mensch und Tier ziemlich schlecht bestellt ist. Dies wirft zunächst einmal einige ethische Fragen auf. In weiterer Folge aber erfordert es eine Neudeutung des Mensch- VErTiEfunG Jacques Derrida (1930–2004) 2 3 t GrundlaGEn úú Kapitel 4 úú Kapitel 10 Mensch-Sein 2 Mensch-Sein 2 9 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=