Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]

365 […] akzeptieren wir den Analogieschluss, andere Menschen hätten ein Bewusst- sein, weil sie auf bestimmte entscheidende Weise sind wie wir, wird es sehr schwie- rig sein, Bewusstsein nicht auch anderen Arten zuzuerkennen, wenn sie ebenfalls zumindest einige dieser Schlüsselmerkmale aufweisen. […] Dass wir nahezu über- zeugt sind, die gleichen Erlebnisse zu haben wie sie, hat mehrere Gründe: unter anderem die Komplexität ihres Verhaltens, ihre Fähigkeit, „intelligent“ zu denken und uns zu zeigen, dass ihnen ihr Schicksal etwas bedeutet . Wir wissen inzwischen, dass auch andere Arten diese Fähigkeiten zeigen – Komplexität, Denken und Sich- aus-der-Welt-etwas-machen. Marian Stamp Dawkins: Die Entdeckung des tierischen Bewußtseins (1994), S. 233. Die Zoologin Marian Stamp Dawkins verweist hier zunächst auf deutliche empirische Hinweise auf komplexes und abstraktes tierisches Denken einschließlich der Hervor- bringung von Bedeutung. Doch wie kann dies allein aufgrund von Verhaltensweisen behauptet werden, wo wir uns doch mit Tieren nicht unterhalten können, lautet der nächstliegende Einwand. Wie können wir es bei Menschen behaupten, lässt sich dagegenhalten. Auch hier schließen wir von Verhaltensweisen und Äußerungen auf ein geistiges und emotionales Innenleben, auf das wir nicht unmittelbar zugreifen können. Die Äußerungen können gelogen sein. Wir stellen also Schlüsse an, und die fallen bei vielen Tieren nicht anders aus als in Hinblick auf Menschen. Die Vorstellung von der Natur als seelenloser Maschine war dem neuzeitlichen Denken seit Francis Bacon vertraut. Sie war aber nicht neu, übernahm vielmehr Gedanken des mittelalterlich-theologischen (scholastischen) Weltbilds. Nur Menschen hätten eine Seele, Tiere nicht, davon waren mittelalterliche Theologen überzeugt. Das Gegenteil zu behaupten galt als Sünde. Ihren Ursprung hat diese Idee einerseits in der aristotelischen Definition des Mensch-Seins, andererseits in der religiösen Vorstellung des Christentums, dass Gott Mensch geworden sei und die Menschen deshalb in grundlegender Weise gegenüber anderen Lebewesen privilegiert seien. Gegen die geläufige und vordergründige Entgegensetzung Kultur–Natur hat sich bereits Immanuel Kant gewandt, wenngleich nicht mit dem Gedanken einer Aufwer- tung der Tierwelt. Es waren logische Gründe, die ihn dazu veranlassten. Kant ging davon aus, dass der Natur ein umfassender Plan zugrunde liege, der Entwicklungen vorsehe und in dem Menschen eine zentrale Rolle spielen würden. Jedenfalls in Bezug auf die Gattung Mensch sprach Kant von einer fortschreitenden Entwicklung bestimmter Naturanlagen. Deren Ausfaltung sei über die Dynamik möglich, die durch den Antagonismus der ungeselligen Geselligkeit ausgelöst werde. Sie führe zu Fortschritt und zu alledem, was Menschen hervorbringen, also zu Kultur. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Untersuchen Sie die zitierte Textpassage! Wie argumentiert die Verfasserin, worauf stützt sie ihre Argumentation? Bilden Sie Gruppen und formulieren Sie Ihre Vorstellung der Beziehung von Natur und Kultur ! Gestalten Sie ein Schaubild und stellen Sie Ihre Ergebnisse der Klasse vor! AuSfüHrunG VErTiEfunG úú Kapitel 9.3.3 2 3 r Mensch-Sein 2 Mensch-Sein 2 9 Nur zu Prüfzw cken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=