Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
392 2.4 Gerechtigkeit Dass Recht und Gerechtigkeit zwei verschiedene Paar Schuhe seien, ist ein Gemein- platz, den Juristinnen/Juristen nicht selten anführen. In der Tat ist es schwierig bis unmöglich, im weiten Feld alltäglicher juristischer Tätigkeiten, sei es bei Gericht oder anderswo, Anzeichen für Gerechtigkeit auszumachen. Dabei ist gerade sie es, deren Wirken sich viele Menschen erhoffen, wenn sie vor Gericht ziehen oder einem Gerichtsverfahren beiwohnen. Ein Hauptproblem liegt wohl in der Schwierigkeit, überhaupt einen allgemeingültigen Begriff von Gerechtigkeit zu finden. Zu unter- schiedlich sind schon die grundsätzlichen Anforderungen. Soll jede/r das Gleiche oder jeder/jedem das Ihre/Seine zuteilwerden? Diese Frage begleitet das philosophische Nachdenken über Gerechtigkeit seit der Antike. Zwar muss zwischen beiden Ansätzen kein grundlegender Unterschied bestehen, doch ist dies in aller Regel der Fall. So hängt auch hier wieder Vieles von Definitionen ab, insbesondere davon, was jeweils als gleich und was als ungleich bezeichnet wird. Hans Kelsen hat in einem Buch mit dem Titel „Was ist Gerechtigkeit?“ unterschiedliche Theorien zum Thema Gerechtigkeit aufgelistet und dargelegt, dass sie alle aus guten Gründen vertretbar sind, aber genauso gut widerlegbar. In ihnen kämen Konflikte um Interessen und Wertvorstellungen zum Ausdruck, die eben in hohem Maße relativ seien. Häufig würden sie sogar im Widerspruch zueinander stehen wie zum Beispiel Ansätze, die das Leben des Individuums als höchsten Wert veranschlagen, und solche, die ein Interesse des Staates an Kriegführung oder Verhängung der Todesstrafe als höchsten Zweck ansehen würden. Folgt daraus, dass die Idee der Gerechtigkeit eine Illusion ist, die am besten gleich zu verabschieden ist? Vermutlich nicht, schon allein weil die Sehnsucht vieler Menschen danach zu groß ist, so unbestimmt die dazu gehörige Vorstellung auch sein mag. Für das Recht stellt sich zudem ein Akzeptanzproblem: Werden beispielsweise Gerichtsur- teile in hohem Maß und von vielen Menschen als ungerecht empfunden, so verlieren diese irgendwann das Vertrauen in das Rechtssystem. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Entwickeln Sie Ihren eigenen Gerechtigkeitsbegriff und bringen Sie die zentralen Elemente desselben stichwortartig zu Papier! „Es gibt ein Gesetz.“ Und wenn man sagt, ein „Gesetz“, so heißt das nicht, dass dieses Gesetz definiert ist und dass es genügt, es zu befolgen […], denn es gibt eben […] ein Gesetz, aber man weiß nicht, was dieses Gesetz sagt. Es gibt eine Art von Gesetz der Gesetze, es gibt ein Meta-Gesetz, das lautet: „Seid gerecht.“ […] „Seid gerecht“ von Fall zu Fall, man wird jedes Mal entscheiden, sich äußern, urtei- len und dann überlegen müssen, ob es das war, gerecht zu sein. JeanFrançois Lyotard: Au juste, Conversations (1970), S. 101 f.; Übers. nach Jacques Derrida: Préjugés (1992), S. 42. Jean-François Lyotard tastet sich hier im Blick auf das Judentum und den jüdischen Gesetzesbegriff vorsichtig an eine Vorstellung von Gerechtigkeit heran, die nicht grundlagen 1 r AuSFüHrung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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