Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
394 3 Freiheit und Verantwortung Kann es so etwas wie Willensfreiheit überhaupt geben oder ist das ein gänzlich überholtes Kon- zept? Falls wir keine Möglichkeit haben, über unser Tun zu entscheiden: Können wir dann noch dafür verantwortlich gemacht werden? Oder wäre dies im höchsten Maße ungerecht? 3.1 Freiheit als Illusion? Wenn im Zusammenhang mit praktischer Philosophie von Freiheit die Rede ist, geht es in aller Regel um Willensfreiheit , aber auch um Selbstbestimmung (Autonomie) . Seit einigen Jahren wird, meist unter Berufung auf neurowissenschaftliche Forschungen, vielfach behauptet, es handle sich hierbei um unhaltbare Ideen. Hirnforschung und Neurowissenschaften würden beweisen, dass Menschen überhaupt keine bewussten Entscheidungen treffen. Als schlagendes Beispiel wird gerne auf eine Reihe von Experimenten verwiesen, die der Physiologe Benjamin Libet schon Anfang der 1980er-Jahre durchgeführt hat. Dabei hätte gezeigt werden können, dass Sekunden- bruchteile bevor Menschen eine bewusste Entscheidung treffen, bereits elektrische Aktivitäten in den zuständigen Hirnarealen auftreten. Daraus ziehen nicht eben wenige Autorinnen/Autoren den Schluss, dass Menschen in ihrem Handeln vollstän- dig durch Instanzen in ihren Köpfen gesteuert werden. Diese Instanzen wären dem bewussten Denken vollkommen unzugänglich, mehr noch, sie würden regelrecht die Illusion von Bewusstheit erzeugen. Abgesehen von der Kritik, die an Libets Messverfahren und seiner Gültigkeit (Validi- tät) erhoben wurde, lassen sich aus seinen Experimenten bei Weitem keine derart weitreichenden Schlüsse ableiten, wie in populärwissenschaftlichen Darstellungen gerne behauptet wird. Denn aus zeitlich nur um Sekundenbruchteile voneinander abweichenden Impulsen (Artikulation eines Wollens und hirnelektrische Aktivität) eine Kausalbeziehung in die eine oder andere Richtung abzuleiten ist zumindest sehr gewagt. Doch selbst, wenn man Libets Ergebnisse nicht weiter hinterfragen wollte, bliebe die Frage, ob der erste hirnelektrische Impuls, etwas zu tun, auch einen unwiderstehlichen Zwang in diese Richtung ausübt. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Recherchieren Sie im Internet und in der InternetErgänzung die Details von Libets Versuchsanordnung und stellen Sie diese in einer Übersicht dar! Libet war von seiner Entdeckung höchst beunruhigt. Der Standpunkt, zu dem er angesichts seiner Forschungsergebnisse gelangte, besagt, dass wir, obwohl wir viel- leicht nicht frei über unsere Bewegungen entscheiden, Einspruch gegen sie erhe- ben, sie verhindern können. Mit anderen Worten, bewusster freier Wille kann als großes Nein funktionieren. Siri Hustvedt: Die zitternde Frau (4. Aufl. 2010), S. 97. grundlagen autonom von gr. autós , „selbst, eigen“, und nómos , „Gesetz“; unabhängig, selbstständig úú Kapitel 3.3.2 úú Kapitel 7.4.2 1 AuSFüHrung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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