Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
395 Nach Libets eigener Einschätzung war bewusster Widerspruch gegen die von ihm gemessenen Impulse möglich. Insofern wäre freier Wille etwas, das sich als Korrektur eines Handlungsimpulses bemerkbar macht. Wir wären keineswegs gezwungen, auftretenden Impulsen zwangsläufig und ganz automatisch nachzukommen. In jedem Fall wird an dieser Stelle deutlich, dass viele der Gewissheiten, die aus Vereinfachungen und journalistischen Verformungen neurowissenschaftlicher Forschung folgen, mit Definitionsfragen und schlampiger Begriffsverwendung zu tun haben. Was etwa bedeutet bewusst und unbewusst in diesem Zusammenhang? Warum und wie könnten Entscheidungen überhaupt jemals vollständig bewusst getroffen werden, wenn wir etwa Freuds topographisches Modell des menschlichen Geistes ernst nähmen? Diesem zufolge besteht beständiger Austausch zwischen dem bewussten, vorbewussten und unbewussten Bereich. Doch dies widerspricht nicht der Idee eines freien Willens ganz allgemein, sondern nur einem Modell vom freien Willen, das in dieser Form ohnedies niemand vertreten hat. Die Vorstellung, Menschen könnten aus dem Nichts heraus völlig beliebig Entscheidungen treffen und sich ständig vollkommen neu erfinden, bedarf keiner neurowissenschaftlichen Widerle- gung, weil sie an sich absurd ist. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Geben Sie eine begründete Definition des Begriffs Willensfreiheit ! Beziehen Sie Beispiele aus eigenen Erfahrungswelten und Lektüren ein! 3.2 Freiheit des Willens und Autonomie Häufig wird behauptet, gerade in der Philosophie hätten immerzu völlig überzogene Vorstellungen von Willensfreiheit und Autonomie bestanden, die nun widerlegt seien. Belege für derlei Freiheitskonzepte werden allerdings nicht beigebracht, es wäre auch schwierig. Denken Sie etwa an Hegels dialektischen Dreischritt, und Sie haben ein typisches philosophisches Modell der Entscheidungsfindung vor sich. Dieses nimmt immer auf bereits gemachte Erfahrungen, erlebte Gefühle und entwickelte Überle- gungen Bezug – auch wenn wir eine vollständige Abkehr davon (in Hegels Sprache: Negation) vornehmen oder dies zumindest versuchen. Ganz im Sinne solcher Überle- gungen bewegen sich beispielsweise auch die bereits erwähnten Überlegungen Peter Bieris zum Thema Willensfreiheit. Diese erscheint als Wahlfreiheit zwischen Alterna- tiven. Wofür wir uns entscheiden, hängt von vielen Faktoren ab, von persönlichen Neigungen, Erfahrungen, auch äußeren Bedingungen, doch bedeutet dies nicht, dass sie rein automatisch ablaufen wie ein Computerprogramm. Wir können mithin von einer bedingten Willensfreiheit sprechen – ähnlich wie von einer bedingten Autonomie. Wörtlich bedeutet Autonomie Selbstgesetzgebung. Philosophiegeschichtlich ist in diesem Zusammenhang an Platons Sokrates zu denken, der sich nur an Gesetze halten wollte, denen er selbst als Bürger der polis Athen zugestimmt hatte. An diese wollte er sich allerdings halten, selbst wenn sein eigenes Leben auf dem Spiel stand. Für Kant war Selbstgesetzgebung im philosophi- VerTieFung 2 grundlagen úú Kapitel 8.3.2 úú Kapitel 8.1.2 úú Kapitel 4.1 Ethische Grundpositionen Ethische Grundpositionen 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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