Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Psychologie Teil]

123 Sie wissen, […], alle unsere neuen Fortschritte im Verständnis und in der Erkennt- nis der Hysterie knüpfen an die Arbeiten von Charcot an. Charcot hat in der ersten Hälfte der achtziger Jahre angefangen, seine Aufmerksamkeit der „großen Neu- rose“, wie die Franzosen sagen, der Hysterie zu schenken. […] Ungefähr gleichzei- tig, als Charcot die hystero-traumatischen Lähmungen […] durchleuchtete, hat Dr. Breuer […] einer jungen Dame seinen ärztlichen Beistand geschenkt, welche sich […] bei der Pflege ihres kranken Vaters eine schwere und komplizierte Hyste- rie mit Lähmungen, Kontrakturen, Sprach- und Sehstörungen […] zugezogen hatte. Sigmund Freud: Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene (1893), in: Sigmund Freud: Hysterie und Angst (8. Aufl. 1994), S. 13, 15. Der Pariser Arzt Jean-Martin Charcot, dessen Vorlesungen am Hôpital de la Salpêtrière Freud 1885 während einer Studienreise hörte, hatte sich auf das Thema Hysterie spezialisiert. Betroffen von dieser Nervenkrankheit waren hauptsächlich Frauen, die körperlichen Symptome der Krankheit waren die erwähnten Lähmungen, heftige Bewegungen, in denen sich der Körper nach hinten krümmte (Arc de cercle, Kreisbo- gen, hysterischer Bogen ) oder Bewegungsunfähigkeit von Gliedmaßen oder Gelenken (die Kontrakturen, von denen Freud spricht). Für all diese Symptome bestanden keine organischen Ursachen. Heute wird der Begriff Hysterie eher vermieden und stattdes- sen von Konversionsstörung gesprochen. Der Umstand, dass um 1900 vor allem Frauen davon betroffen gewesen zu sein scheinen, hängt vermutlich mit vielfältigen gesell- schaftlichen Formen von Einengung, Unterdrückung und auch sexueller Gewalt zusammen, der Frauen im familiären Bereich ausgesetzt waren. Die hysterische Symptomatik könnte als eine Form unbewussten Auslebens der daraus resultierenden Traumatisierungen und inneren Konflikte gedeutet werden. Auch wenn der Kreis um Sigmund Freud zunächst hauptsächlich aus Männern bestand, übten einige Frauen sehr großen Einfluss bei Entstehung, Weiterentwicklung und Modifikation der Psychoanalyse aus. Die erste Frau, die der Psychologischen AuSFüHrunG Jean-Martin Charcot (1825–1893) VerTieFunG Anna Freud (1895–1982) Marie Bonaparte (1882–1962) Persönlichkeit und Entwicklung Persönlichkeit und Entwicklung 4 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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