Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Psychologie Teil]

139 3.2 Entwicklungsphasen nach Mahler Im Lauf der Zeit wurden auf der Grundlage oder in Auseinandersetzung mit Freuds Modell weitere entwicklungspsychologische Modelle entwickelt. Wir wollen uns im Folgenden beispielhaft näher mit drei sehr einflussreichen beschäftigen, nämlich jenen von Margaret Mahler, Erik H. Erikson und Jean Piaget. Die Kinderärztin und Psychoanalytikerin Margaret Mahler entwickelte wie Freud ein Modell verschiedener kindlicher Entwicklungsphasen, begrenzt diese allerdings auf die ersten drei Lebensjahre. Autistische Phase (Geburt bis ca. 4.–6. Woche): Hier ist das Kind gänzlich auf sich selbst bezogen, sucht den Schock der Geburt zu überwinden und in ein Gleichgewicht mit seiner Umwelt zu gelangen. Der eigene Körper ist dabei stark libidobesetzt. Symbiotische Phase (2.–5. Monat): Das Kind erlebt sich und seine primäre Bezugsper- son (Mahler spricht stets von der Mutter) als Einheit; es sieht sich mit ihr in einer symbiotischen Beziehung und dehnt die Libidobesetzung auf sie als sein symbioti- sches Umfeld aus. In dieser Phase spiegeln Kinder die Bezugsperson, das heißt sie kopieren deren Verhaltensweisen. Diese Beziehung bildet Mahler zufolge eine wichtige Grundlage für alle späteren Beziehungen. Loslösungsphase (5.–12. Monat): Das Kind grenzt sein eigenes Körperschema gegen dasjenige der primären Bezugsperson ab. Im Idealfall beginnt hier nach Mahler auch eine Phase der Individuation im Sinne der Entwicklung persönlicher Autonomie. Die Differenzierung des Körperschemas hängt auch mit körperlichen Entwicklungen während des 4.–8. Monats zusammen, etwa der Fähigkeit, sich von der Bezie- hungsperson abzustoßen. Übungsphase (11.–18. Monat): Das Kind, dessen motorische Fähigkeiten nun deutli- cher entwickelt sind, beginnt, sich für seine übrige Umgebung (außer der primären Bezugsperson) zu interessieren und sie zu erforschen. Es erfreut sich an der Welt, entwickelt dabei Allmachtsgefühle, lässt sich auch von Fehlschlägen wie Verletzungen nicht abschrecken und weist daher eine Frustrationstoleranz auf. Das neue Interesse an der Welt erstreckt sich auch auf andere Personen, insbesondere auf eine weitere, von Mahler als selbstverständlich vorausgesetzte Person in der unmittelbaren Umgebung des Kindes, nämlich den Vater. Diese sekundäre Bezugsperson werde in der Regel als Spielgefährte entdeckt. Wiederannäherungsphase (18.–24. Monat): In kognitiver Hinsicht sind die Fähigkeiten des Kindes so weit entwickelt, dass es sich als ein von der Mutter verschiedenes Wesen erlebt (also nicht mehr zu einer symbiotischen Beziehung zurückzukehren versucht). Allerdings besetzt es sie mit seiner Libido. Zugleich aber erfährt das Kind in dieser Zeit eine Reihe von Enttäuschungen; es fängt an, die Welt als widerständig zu erleben – manche Dinge sind hart, undurchdringlich, manches entzieht sich beharrlich dem eigenen Willen. Hinzu kommen meist Forderungen der Eltern, die sich auf Fragen der Körperpflege beziehen. Frühere Frustrationserfahrungen werden überboten, Frustration wird in dieser Phase zu einer bestimmenden Erfahrung. So entwickelt das Kind gegenüber der Mutter häufig eine gespaltene Haltung, weil es sie einerseits als gut , andererseits aber als böse wahrnimmt. Nach Mahler sollte diese Spaltung im Sinne eines positiven Mutterkonzepts überwunden werden. Der Vater spielt nun eine wichtige Rolle im Leben des Kindes. Das Kind fühlt sich in die Welt der Eltern einbe­ zogen. GrundlaGen autistisch von gr. autós , „selbst“ symbiotisch von gr. syn , „zusammen“, und bíos , „Leben“ Frustrationstoleranz von lat. frustrare , „in der Erwartung täuschen“ und tolerare , „ertragen“; Fähigkeit, als frustrierend, also enttäuschend erlebte Situationen über einen längeren Zeitraum zu ertragen Persönlichkeit und Entwicklung Persönlichkeit und Entwicklung 4 Nur zu Prüfzw cken – Eigentum des Verlags öbv

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