Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Psychologie Teil]

38 1 Wahrnehmungsprozesse Zehn Menschen wohnen ein und demselben Ereignis bei und berichten doch ganz verschiedene Dinge. Wie ist so etwas möglich? Sehen, riechen, ertasten wir denn nicht alle dasselbe? Offenbar nicht ganz. 1.1 Wirklichkeiten In der Erzählung „Im Dickicht“ (1915, zuweilen auch übersetzt mit „Im Walde“) des japanischen Schriftstellers Ryunosuke Akutagawa steht eine Sache fest: In einer Waldlichtung liegt die Leiche eines Samurai, also eines adeligen Kriegers des alten Japan. Wie der Samurai jedoch zu Tode gekommen und was seiner Ehefrau widerfah- ren ist, steht dagegen gar nicht fest. Dabei gibt es mehrere Personen, die sein Hinscheiden mit angesehen haben, doch erzählen sie alle höchst unterschiedliche Geschichten. Klar, sie sind alle irgendwie in das Geschehen involviert und haben ihre Interessen, die auch ihre Wahrnehmung beeinflussen. Allerdings scheint es nicht so, als würden sie bewusst die Unwahrheit sagen, und überhaupt weichen ihre Geschich- ten nur in Details voneinander ab; doch gerade mit diesen Details verbinden sich große Unterschiede. Das Szenario, das Akutagawa entwirft, ist allen, die jemals mit Zeugenaussagen zu tun hatten, in höchstem Maße vertraut. Die Zeuginnen/Zeugen müssen gar nicht selber von dem berichteten Geschehen betroffen, meist ist das genaue Gegenteil der Fall. Jeder beliebige Verkehrsunfall bringt Beobachtungen mit sich, die in Details einfach nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Ist das rote Auto zuerst in die Kreuzung eingebogen oder doch das gelbe? Saß in dem Auto, das einfach davonge- fahren ist, ein alter Mann oder eine junge Frau – oder vielleicht doch jemand im Geschäftsanzug, Geschlecht unbekannt? Derlei Abweichungen sind ganz normal. Sie hängen zum Teil mit der Genauigkeit von Beobachtungen oder sonstigen Sinneswahr- GrundlaGEn Szenenfoto aus dem Film „Rashomon – Das Lustwäldchen“ (1950) von Akira Kurosawa nach der Erzählung „Im Dickicht“ von Ryunosuke Akutagawa Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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