Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Psychologie Teil]

39 nehmungen zusammen, andererseits aber auch mit unterschiedlichen Voraussetzun- gen, die dem gesamten Wahrnehmungsprozess zugrunde liegen. Insofern lässt sich häufig auch gar nicht mit Recht sagen, die Darstellung von Frau A sei richtig, während Herr B eben etwas falsch gesehen oder nicht korrekt wiedergegeben habe. Es kann sich auch um unterschiedliche Facetten ein und derselben Sache handeln, die aber ganz verschieden gewichtet und miteinander in Zusammenhang gebracht wurden. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Machen Sie folgendes Experiment: Bilden Sie Gruppen! Schreiben Sie jede/r für sich nieder, was in der letzten Unterrichtsstunde geschehen ist, und versuchen Sie dabei möglichst ins Detail zu gehen! Vergleichen Sie Ihre Beobachtungen. In wie vielen Punkten sehen Sie Übereinstimmungen und in wie vielen Abweichungen? Stellen Sie die Ergebnisse zusammen und präsentieren Sie sie in der Klasse! Diskutieren Sie gemeinsam, ob der Gedanke von den verschiedenen Wirklichkeiten auf Ihre Erfahrungen aus dem Experiment zutrifft! Akutagawas Erzählung […] handelt von der Vergewaltigung einer Frau und der Ermordung ihres Mannes durch einen Banditen, der ihnen imWalde auflauert und dessen Untat von einem Holzfäller beobachtet wird – jedoch nicht in Form einer „objektiven“ Schilderung des Vorgangs, sondern viermal individuell durch die Augen jeder dieser Personen gesehen. In seinemmeisterhaften Stil lässt Akutagawa auf diese Weise vier verschiedene Wirklichkeiten zutage treten und führt so den Leser selbst fast unmerklich zu dem Punkt, an dem er nicht mehr entscheiden kann, welche dieser vier Wirklichkeiten die wirkliche ist. Paul Watzlawick: Wir wirklich ist die Wirklichkeit? (20. Aufl. 1992), S. 76 f. Am Ende von „Im Dickicht“ lässt Akutagawa sogar noch den Toten zu Wort kommen, der durch den Mund einer Priesterin spricht. Doch selbst er kann die Sache nicht so aufklären, dass wir erfahren, wie es denn nun wirklich gewesen ist: In diesem Augenblick nahte sich jemand mit leisen Schritten. Ich versuchte aufzu- schauen. Aber die Dunkelheit hatte mich schon eingehüllt. Eine unsichtbare Hand zog behutsam das kurze Schwert aus meiner Brust. Sogleich quoll mir noch einmal ein Blutstrom aus dem Mund, und dann versank ich für immer in der Finsternis des Nichts. Ryunosuke Akutagawa: Im Dickicht, in: Ryunosuke Akutagawa, Rashomon, übers. v. Jürgen Berndt (4. Aufl. 1991), S. 343. Konstruktivistische Weltdeutungen wie jene des Psychotherapeuten und Kommunika- tionsforschers Paul Watzlawick nehmen die Erfahrung ernst, dass es vielfältige Arten gibt, Wirklichkeit wahrzunehmen. Daraus muss aber nicht folgen, dass es immer unterschiedlich richtige Wahrnehmungen der einen einzigen Wirklichkeit gibt, sondern eben unterschiedliche Wirklichkeiten, weil unsere Wirklichkeiten nicht von den Wahrnehmungen zu trennen sind, die wir von ihnen haben. 1 r 2 t AuSFüHrunG VErTiEFunG Wahrnehmung und Kognition Wahrnehmung und Kognition 2 Nur zu Prüfzwecken – Eige tum des Ve lags öbv

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