Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Psychologie Teil]

48 Vielmehr erleben wir den Raum als gleichbleibend und stabil. Dies wird als Wahrneh- mungskonstanz bezeichnet und hängt damit zusammen, dass unser Gehirn sich auf die gleichbleibenden Faktoren konzentriert und nicht auf die Nuancen, die bei jeder Veränderung des Blickes entstehen. Gleichwohl nehmen wir aber auch Bewegungen wahr. Das Größer- oder Kleiner-Werden eines Bildes liefert uns einen Hinweis darauf, dass sich ein Gegenstand nähert oder entfernt. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Machen Sie ein Gedankenexperiment: Wie würden Sie sich verhalten, wenn es die Wahrnehmungskonstanz des Gehirns nicht gäbe? Fassen Sie Ihre Überlegungen in einem Essay zusammen! 1.6 … und Zeit Die Frage nach der Zeit, ihrem Wesen und ihrem materiellen Gehalt, ist bereits eine hochgradig philosophische. Sowohl die philosophische als auch die physikalische Frage nach der Zeit ist komplex und durch das Vorhandensein sehr unterschiedlicher Positionen gekennzeichnet. Wir gehen meist davon aus, dass Zeit vergeht, dass wir sie uns als einen prozesshaften Ablauf vorstellen können oder müssen. In der Vorstellung der meisten Menschen verläuft Zeit linear, also in etwa so, dass einzelne Zeitpunkte aufeinander folgen, einander gewissermaßen ablösen. Einzelne Momente folgen einander in unserer Zeitwahrnehmung in Zeitintervallen von Sekundenbruchteilen, innerhalb derer Sinnesreize erfolgen und verarbeitet werden können. Diese Auffas- sung ist die im Alltag geläufige. Physikalisch ist sie spätestens seit Albert Einsteins Überlegungen zur Allgemeinen und zur Besonderen Relativitätstheorie mehr als zweifelhaft. Auch in der Philosophie wurde sie längst als zweifelhaft erkannt. In etwa verhält es sich mit diesem Zeitbild wohl ganz ähnlich wie mit dem Eindruck, die Sonne gehe morgens im Osten auf und abends im Westen unter . Aus psychologischer Perspektive müssen wir uns mit diesem Problem aber nicht zwingend auseinandersetzen, sondern können uns auf das Erleben von Zeit konzen- trieren. Menschen erleben Dinge in einem Horizont der Veränderung und der Verän- derlichkeit: Menschen werden geboren, sie werden älter und sterben, viele Bäume und Blumen zeigen im Frühling Blüten, dann Blätter, und im Herbst fällt alles wieder ab und lässt kahle Äste und Zweige zurück, auf denen sich nach Ende des Winters wieder neue Blüten zeigen. Wir planen beständig irgendetwas, bahnen es an, bringen es zu Ende oder nicht, erleben Erfolg oder Scheitern, und alles ist an zeitliche Abläufe gebunden. Was wir wahrnehmen, sind Veränderungen, Entwicklungen, die wir nicht kausal mit räumlichen Veränderungen in Beziehung bringen können. Wir schreiben sie einem Fortschreiten von Zeit zu, das wir mit Zeitmessgeräten möglichst genau zu bestimmen versuchen. Bezugspunkt dieser Messung ist, ganz unabhängig von den zugrundeliegenden physikalischen Theorien, die räumliche Beziehung zwischen der Erde und anderen Himmelskörpern. Um von der astronomischen auf die Ortszeit rückschließen zu können, sind aber wieder Angaben über die geografische Länge erforderlich. Irgendwie hat Zeit also immer auch mit Raum zu tun, weshalb Einstein ja auch von einem Raum-Zeit-Kontinuum gesprochen hat. 2 r GrundlaGEn Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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