Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Psychologie Teil]
50 2 Wahrnehmungswelten Schon auf der Ebene physiologischer Abläufe ist Wahrnehmung in vielerlei Hinsicht Interpretation. Doch es geht noch weiter. Je komplexer die Gegenstände unserer Wahrnehmung sind, desto mehr machen wir aus ihnen. So kann es nicht weiter verwundern, wenn Menschen scheinbar identische Ereignisse ganz unterschiedlich erleben. 2.1 Kontexte und Erwartungen VOGEL, RATTE, ZIEGE, BÄR, KATZE, H?ND HALS, OHR, ARM, BEIN, KNIE, H?ND Lesen Sie die beiden Wortfolgen schnell und flüssig, am besten laut. Welches Wort lesen Sie, wenn Sie bei H?ND ankommen? Immer dasselbe? Oder ergänzen Sie zwei unterschiedliche Wörter? Denn ergänzen müssen Sie wohl, das Wort steht ja unvoll- ständig da. Dies freilich nur, sofern Ihnen beim raschen Lesen überhaupt aufgefallen ist, dass dort nicht Hund oder Hand steht. Der Zusammenhang, in dem wir ein Wort, ein Bild, einen Klang, eine Verhaltensweise wahrnehmen, entscheidet oft darüber, wie wir mögliche Leerstellen füllen. Leerstellen gibt es jede Menge, gerade bei Texten, Filmen oder im Bereich menschlicher Kommunikation. Wie oft haben wir das Gefühl, jemand hätte dies oder jenes gesagt, und doch belegt eine genauere Analyse, dass es zumindest so nicht gesagt wurde. Dann ist aber meistens schon ein Streit losgebro- chen. Wenn wir einen längeren Text schreiben, dann produzieren wir automatisch Leerstellen, weil wir annehmen, dass der/die Leser/in schon wissen wird, was gemeint ist. So könnten wir schreiben: „Sie zog sich einen Sessel heran und setzte sich. Argwöhnisch beäugte sie ihr Gegenüber.“ Dabei setzen wir zumindest voraus, dass allgemein bekannt ist, was ein Sessel sei. Sonst müssten wir zwischen die beiden Sätze eine Erläuterung einfügen: „Bei einem Sessel handelt es sich im österreichi- schen Sprachgebrauch um ein einfaches, im binnendeutschen um ein bequemes Sitzmöbel.“ Dieser Satz würde uns nicht nur den Textfluss kaputtmachen, sondern auch noch weitere Fragen aufwerfen, etwa: Was ist ein Sitzmöbel ? Es ist gut möglich, dass ein/e Leser/in in fünfhundert Jahren an dieser Stelle vor einem Rätsel steht. Worauf hat sich die Protagonistin da wohl gesetzt, mag sie/er sich fragen. Als Autor/ in können wir auf derlei künftige Entwicklungen allerdings keine Rücksicht nehmen. Ansonsten würden wir in unserer Zeit und in unseren kulturellen Umfeldern keine Leser/innen finden. Oder würden Sie gern eine Erzählung lesen, die mit zahlreichen lexikalischen Einschüben gespickt ist? Vermutlich würden Sie dies nicht einmal bei einem Lehrbuch oder einer wissenschaftlichen Abhandlung gut finden. Damit hätten Sie auch zweifelsfrei Recht, denn der Text würde unlesbar. Leerstellen sind also unvermeidbar, beim Sprechen, beim Schreiben, selbst in bildlichen Darstellungen. Um zu wissen, welche Leerstellen wir wo machen können, gehen wir von fiktiven Leserin- nen/Lesern aus, denen wir die Eigenschaften zuschreiben, die wir nach unserem eigenen (kulturell und sozial gespeisten) Erfahrungs- und Erwartungshorizont als gegeben annehmen. Dabei können wir uns ziemlich irren, in den meisten Fällen tun GrundlaGEn Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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